Sie schildern so verlockend, daß man fast Lust hat, jetzt – zwanzig Schritte vor dem riegellosen Pförtchen – umzudrehen und im Galopp seinen Hals in Sicherheit zu bringen.«
»Nun, nun, das Nest liegt trotz allem mit allem übrigen rundum im neunzehnten Jahrhundert. Vorwärts, Signor Mulo!«
Sie kreuzten einen hastigen Bach und gelangten nun zwischen die Zäune und Häuser. Da fuhren wohl einige ob der Reiterin verwunderte Gesichter an die Fenster, drei oder vier eilige Frauen liefen gaffend in die Haustüren, und die Kinder rannten in den Weg und scheu zurück; aber das Dorf behielt dessenungeachtet den Ausdruck des Abgestorbenseins. Nur ein Mann begegnete dem Justizrat und der Frau Salome und grüßte den Alten ziemlich höflich.
Hügelauf und hügelab zogen sich die Dorfgassen, wenn man die Wege zwischen den regellos verstreuten Wohnungen so nennen wollte; und der Kirche zu, gegen die Berge hin, zwischen Gebüsch versteckt lag die Behausung Scholtens, so nahe der Kirche, daß der kuriose Rechtsgelehrte in windstillen Nächten wahrscheinlich das Geräusch der Unruhe im Turm vernehmen konnte.
Vor einer Lücke in der lebendigen Hecke, die eine Tür vorstellen konnte, ließ der Justizrat den Zügel des Esels frei und zog die Mütze ab, indem er sich verneigte wie ein Seneschall oder Kastellan auf dem Theater oder aus einer zierlich-höflicheren Zeit.
»Euer Gnaden sind angelangt«, sprach er und war seiner Begleiterin beim Absteigen in einer Weise behülflich, die klar darlegte, daß er nicht zum erstenmal einer Dame vom Roß oder Esel half.
»Unsere Gnaden danken Euch freundlichst«, sagte die Baronin lächelnd. »Die knienden Pagen, den Salut vom Donjon, den üblichen Bewillkommnungsscherz des buckligen Burgzwergs erlassen wir unserm edlen Gastfreund. Sie hausen in der Tat recht heimlich, lieber Scholten.«
»Und Sie haben wie gewöhnlich das richtige Wort für die Sache gefunden, liebe Frau Salome. Nie oder selten hat ein alter, abgefeimter juristischer Fuchs sich so heimlich ins Grüne verzogen wie ich hier. Sehen Sie da, zur Linken und Rechten die Küsterei und Pfarrei. Da habe ich meine zwei lieben Dorffreunde dicht zur Hand. Und der Schatten des Kirchendachs fällt auf mein Dach, wenn die Sonne danach steht; aber das Gemütlichste ist doch der stille Dorffriedhof, auf welchem ich stets, der geschützten Lage wegen, meine Morgenpfeife rauche. Wenn die Witterung es irgend erlaubt, wandle ich in Schlafrock und Pantoffeln unter den Gräbern, Blumen, Kränzen und Kreuzen als ein Poet und Philosoph und notiere nichts – als eben die Witterung in meinem Terminkalender –«
»Und bringe es doch nicht dahin, von der närrischen Judenmadam Salome Veitor für den Verzwicktesten der Sterblichen gehalten zu werden. Wir haben unter uns Charaktere, denen Sie längst nicht das Wasser reichen, bester Justizrat. Geben Sie sich also weiter keine Mühe.«
»Wo lassen wir nun den Asinus?« fragte Scholten, mit dem Zügel des Tieres in der Hand sich umschauend, und die Baronin lachte darauf so herzlich, daß der Alte beinahe nunmehr zum erstenmal an diesem Tage die Fassung und Haltung verloren hätte.
»Zum Kuckuck!« brummte er und fand zu seinem Glück einen Ast, um welchen er den Riemen schlang. »Tretet ein. Gnädige«, sagte er, »und nehmt die Gewißheit mit über die Schwelle, daß Ihr willkommen seid. Hätte ich viele Euresgleichen unter euch und uns gefunden, so – würde ich mich wahrscheinlich nicht mit meinen Besuchen bei Ihnen begnügt haben, liebe Freundin.«
Die schöne Frau verneigte sich, den Saum ihrer Kleider zusammenfassend, und trat über den Steintritt. In demselben Moment erschien ein altes, verwittertes Harzweib auf der Schwelle des Hauses, und der Justizrat stellte vor:
»Meine Hauswirtin, Witwe Bebenroth, vor fünfzig Jahren ein recht niedliches Kind, um das mehr denn ein Jüngling mit blutigem Kopf nach Hause kam; jetzt eine ganz brave Frau, die nur dann und wann ihr Mundwerk ein wenig im Zaum zu halten hat.«
»O Herr Justizrat!« rief die Alte.
»Nun, nun, Frau Baronin; wir wollen mit niemand zu strenge ins Gericht gehen. Sie hatte es für ihren Charakter vielleicht zu bequem mit dem Friedhof da vor ihrer Tür. Zwei Männer hat sie zu Tode geärgert, und zwar nur, weil sie sie nur über den Zaun zu schieben brauchte, um das Haus rein und ruhig zu machen.«
»O du gütiger Himmel, nun höre ihn wieder einer!« kreischte die Alte. »Ach Madam, konnte ich denn für die Ruhr bei meinem Zweiten? Und konnte ich dafür, daß mein Letzter sich im Steinbruch nicht mit der Sprengpatrone in acht nahm?! O Madam, glauben Sie nur niemalen, was der Herr Justizrat so hinsagen; auf dreimal machen sie zweimal ihren Spaß mit einem. Was meinen Ersten angeht, so hat mich der von Anfang an so schlimm traktiert, daß es kein Wunder gewesen ist, wenn ich mich gegen ihn gewehrt habe, wie ich konnte.«
»Herrgott, von dem Ersten hab ich ja noch gar nichts gewußt!« rief Scholten verblüfft. »Also sind es gar drei gewesen? Und jetzt komme ich schon sechs Sommer hintereinander hier in die Einöde und gehe jeden Morgen da im Dorfarchive spazieren, und sie hat es doch möglich gemacht, mir einen – ihren Ersten gar – zu verheimlichen. O Witwe Bebenroth, o Weiber, Weiber, Weiber!«
»Der Meister Kasties kann ihn selber nicht mehr finden«, sagte die Alte kleinlaut beschönigend, und mit zum Himmel gerichteten Augen wendete sich der Justizrat an die Frau Salome und ächzte:
»Nun bitt ich Sie; dieser Meister Kasties ist der Archivar des Ortes, das heißt der Totengräber, und gut seine achtzig Jahre alt. Er ist mein guter Freund und behauptet, jedes Regal und Fach in seinem Repositorio genau zu kennen nach Datum und Inhalt. Das nennt man nun Historie; und so geht man mit den wichtigsten Dokumenten der Erde um!«
»Ich ginge in Ihrer Stelle jetzt in Ihre Stube, Herr Justizrat«, sagte die Alte verdrossen. »Das Kind ist eingeschlafen, und wenn es mir nicht gesagt hätte, daß es auf Sie warten müsse und daß Sie es eingeladen hätten, so würde ich ihm wohl eine andere Schlafstelle angewiesen haben.«
»Auf Eure Gefahr!« rief Scholten. »Kommen Sie, Baronin. Sie ziehen mir auch eine verzwickte Miene. Ist Ihnen die Witwe zu schwer auf die Seele gefallen?«
Die Frau Salome schüttelte sich ein wenig, folgte dann der einladenden Handbewegung und trat über die Schwelle der Stube des Justizrats. Der Kuckuck der Uhr im Winkel rief grade in diesem Augenblick sechsmal.
Es war eine gewöhnliche Bauernstube, jedoch kahler und geräteleerer, als man sie sonst zu finden pflegt.
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