Der jetzige Bewohner hatte für seinen Aufenthalt alles, was ihm im Wege stand, und dessen war nicht wenig, hinausschaffen lassen. Nur die Uhr, der lange, massive Tisch, die in der Wand befestigte Bank, der Ofen und einige dreibeinige Holzstühle mit herzförmigen Aussägungen in den Rücklehnen hatten Gnade vor seinen Augen gefunden. Ebenso ein Wandschrank und am Fenster eines jener bekannten untrüglichen Wetterhäuschen, aus dessen Tür bei angenehmer Witterung der Mann, bei Regen aber die Frau tritt und in welchem eine Darmsaite das bewegende Prinzip spielt. Eine alte – die erste Genfer Ausgabe der Pièces fugitives von M. de Voltaire lag in der einen Fensterbank, ein bleiernes Dintenfaß mit einem Gänsefederstumpf stand in der andern. In einer Ecke stand ein halb Dutzend langer Pfeifen und ein Reserveknotenstock. An einem Nagel hinter der Tür hing die Garderobe des Justizrats Scholten, und eine zweite Tür führte in eine Kammer, in welche einen Blick zu werfen wir uns nicht erlauben werden. Wir haben noch ein anderes zu betrachten, was auch die Baronin Salome rasch und nicht ohne Interesse ins Auge faßte und auf welches uns die Witwe Bebenroth bereits aufmerksam gemacht hat.

Auf der Bank hinter dem Tische saß oder lag vielmehr ein junges Mädchen, dem Anschein nach ein Kind von zwölf Jahren, und schlief. Von dem Gesichte sah man nichts; die Kleine hatte es auf die Arme gelegt und schlief mit der Nase auf dem Tische. Das Haar aber, dessen eine Flechte sich gelöst hatte, überströmte in merkwürdigster gelbweißer Fülle die Arme und den Tisch, und dieser Besuch schien sehr müde zu sein und lange nicht geschlafen zu haben: der Eintritt des Justizrats mit seiner schönen Freundin erweckte ihn nicht.

»Ich würde Ihnen die Bank anbieten, Gnädige«, sagte der augenblickliche Herr der vier Wände, »aber Sie sehen, es läßt sich nicht tun. Nehmen Sie Platz, ich freue mich sehr, Sie endlich einmal hier zu haben.«

Er schob der Baronin einen der dreibeinigen Stühle mit einem Herzen in der Lehne hin und holte sich gleichfalls einen. Doch ehe er sich setzte, ging er zu dem offenen Wandschrank, holte ein weißes Brot nebst einer mit Salz gefüllten Glasschale sowie ein Messer auf einem irdenen Teller mit dem Spruche: Und sie aßen alle und wurden satt. Ev. Matthäi 14, 20. – Damit kam er vergnügt zurück an den Tisch und meinte:

»Es ist eine Gefälligkeit von Euch, Gastfreundin, aber Ihr tut mir wirklich einen Gefallen, wenn Ihr jetzo zum erstenmal Salz und Brot unter meinem Dache eßt.«

 

»Und einen Trunk der frischen Welle,

Der nie das Blut geschwinder treibt,

 

Gastfreund«, bat die jüdische Edelfrau, worauf Justizrat Scholten seine Witwe Bebenroth mit einem Kruge zum Brunnen schickte und brummte:

»Mit der Reservatio, daß Sie mir damit nicht kommen, wenn ich Ihnen meinen Gegenbesuch abstatte.«

Die Schläferin am Tische regte sich während dieses Zwiegespräches, doch sie erwachte nicht, sie legte ihren Kopf nur ein wenig bequemer zwischen ihre Arme.

»Wen haben Sie denn da, Scholten?« fragte die Baronin.

»Welch ein merkwürdiges Haar die Kleine hat!«

»Die Sonne Judäas hat freilich nichts mit diesem Flachsfelde zu schaffen. 's ist die Tochter Querians, den Sie auch nicht kennen, Frau Salome. Ihren Taufnamen habe ich ihr aus der Tiefe meiner germanistischen Geschichtsstudien aufgefischt und an gehängt. Eilike heißt das Kind – Eilike Querian. Ein ganz vortrefflicher Name, Eilike, den ich aber dem Pastor vor dem Taufakt in den Büchern altsächsischer Chronik und Legende aufzuschlagen hatte, ehe ich ihm denselben mundgerecht machte.«

»Und wer ist Querian?«

»Hm«, antwortete der Justizrat, »das mögen Sie sich von seiner Tochter erzählen lassen. Vierzehn Jahre ist's her, seit ich sie in der Marktkirche zu Hannover aus der Taufe hob und sie auf den Markt des Lebens brachte. Sie ist ein recht gescheites Ding in den Jahren geworden und weiß ziemlich genau Bescheid in den Umständen ihres Papas.«

»Und Querian wohnt hier im Dorfe?«

»So ist es. Und er wohnt hier nicht bloß als ein flüchtig vor überziehender Sommergast. Er hat sich ansässig hier gemacht, oh, er sitzt hier sehr fest. Nun, wenn Sie Glück haben, werden Sie ja auch wohl seine persönliche Bekanntschaft machen; ich erlaube mir jedoch, Sie von vornherein darauf aufmerksam zu machen, daß der Verkehr mit ihm einige Behutsamkeit erfordert.«

»Meine Neugier –«

»Nach dem Wörterbuch ein heftiges Verlangen, etwas Unbekanntes kennenzulernen oder zu erfahren, das aber, wie ich dann und wann erfahren habe, nach seiner Befriedigung in sein Gegenteil umschlägt. Eilike!«

Er hatte bei dem letzten Worte seinem schlafenden Gaste die Hand auf die Schulter gelegt, und die Kleine erwachte. Sie fuhr aber nicht rasch und erschreckt in die Höhe, sondern sie richtete sich langsam und träge empor und strich gähnend mit beiden Händen die Haare zurück. Da ihr die Frau Salome gerade gegenüber saß, sah sie auch auf die schöne Baronin. Sie stierte sie an aus hellen, blauen Augen, und es war etwas in dem Blicke, was die Frau Salome zu dem stummen Ausrufe bewog:

»Mein Gott, das arme Geschöpf ist blödsinnig!«

 

Sechstes Kapitel

 

»Dieses wohl nicht; freilich aber ein wenig in Hinsicht auf geistige wie körperliche Erziehung vernachlässigt«, sagte der Justizrat, als ob er mit seinen leiblichen Ohren gehört habe, was die Baronin in der Tiefe ihrer Seele gerufen hatte. »Blödsinnig ist sie nicht, sie sieht nur dann und wann so aus.«

»Daß der Umgang mit Ihnen ein wenig mehr als bloße Behutsamkeit erfordert, weiß ich, es ist nicht mehr nötig, daß Sie mir dieses immer von neuem deutlich machen, Scholten. Guten Abend, mein Kind; wirst du mir erzählen, was dir eben träumte?«

Die Kleine machte nur die größten und verwundertsten Augen; wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt starrte sie die schöne Dame an, antwortete aber nicht.

»Guten Abend, Eilike«, sagte der Justizrat.