»Gut geschlafen? Eigentlich sollte man dir einen guten Morgen wünschen.«

Jetzt ging ein Lachen über die Züge des Mädchens, während es sich mit den Knöcheln beider Hände die Augen rieb und von neuem herzhaft gähnte.

»Wie Viele hast du heute schon verschlungen?« brummte Scholten, und jetzt zeigte es sich, daß das Ding doch auch zu reden wußte.

»Oh, noch niemand, Herr Pate. Wir haben auch gar nicht zu Mittag gekocht. Der Vater hatte keine Zeit, und ich habe ihm geholfen. Jetzt schläft er, und ich bin hier und habe auch geschlafen. Es ist wohl der heiße Tag gewesen, und unterwegs hatte mir der liebe Gott noch einen Botengang linksab geschickt. Das hat mich wohl noch schwindliger gemacht; da bin ich hier in der Kühle eingeschlafen, ohne daß ich weiß, wie es zugegangen ist. O nehmen Sie es nur nicht übel!«

»Im Brotschranke war ein halbes gebratenes Huhn – delikat! – und ein Topf mit Pflaumen in Zucker?!« sagte oder fragte der Justizrat, wie verstohlen mit dieser Bemerkung sich seitwärts anschleichend.

»O ich weiß, Herr Pate! Ich stand auf den Zehen; aber sie hat mich am Zopf umgedreht, und da habe ich hier auf der Bank gewartet und bin eingeschlafen.«

Die Augen der Kleinen leuchteten bei dem neuen Blick auf den Wandschrank; aber die Augen des Justizrats Scholten leuchteten gleichfalls bei einem Blick in denselben. Mit einem Sprunge war er vor der Stubentür, und sofort erhub sich in der Tiefe des Hauses – wahrscheinlich in der Küche – ein Lärm, der die stillen Schläfer an der Kirche unter den Kreuzen und grünen Hügeln hätte aufwecken können. Der gemütliche alte juristische Sommergast der Witwe Bebenroth schien toll geworden zu sein. Er schrie, er brüllte – Pfannen und Töpfe rasselten –, dazwischen zeterte und heulte die Witwe; die Frau Baronin Salome von Veitor aber schob der Eilike den irdenen Teller mit dem Brot zu und sagte:

»Du wirst für jetzt wohl damit fürliebnehmen müssen, mein armes Kind.«

»Oh!« rief Eilike Querian, griff mit beiden Händen gierig zu, riß ganze Stücke mit den blendend weißen, scharfen Zähnen ab und erstickte fast im Kauen und Schlingen.

Der Anblick war solcher Art, daß die Frau Salome, die Hände faltend, murmelte:

»Wer konnte darauf achten? Ich hab's nicht gesehen; aber ich hoffe, er hat seinen Spazierknittel mit in die Küche genommen und macht Gebrauch davon. Ich hoffe zu Gott, daß er das Weib durchprügelt!«

Keuchend, mit dem hellen Wutschweiß auf der Stirn, trat Scholten wieder ein.

»Das Kind habe alles gefressen, behauptet der Unhold und will darauf einen selbstverständlich falschen Eid schwören«, sagte er grinsend. »Eilike –«

Das Kind hatte sich bereits erhoben. Es stand in einer seltsam pathetischen Stellung. Die linke Hand hatte es auf die Brust gelegt, die rechte erhob es, reckte die Schwurfinger auf und sagte mit wunderlich feierlichem Tone:

»Der barmherzige Herr und Schöpfer vom Himmel und der Erde ist mein Zeuge. Ich habe es nicht getan.«

Die Frau Salome sah von dem jungen Mädchen auf den Justizrat:

»Scholten, ich bitte Sie?! Was ist das, Scholten?«

»Eilike Querian. Querians Tochter, wie ich Ihnen sagte. Mein Patchen aus der Marktkirche zu Hannover, wie ich Ihnen bemerkte. Ich habe die Person nach dem Wirtshause geschickt. Nicht wahr, Eilike, wir sind mit jeglichem Tafelabhub zufrieden?«

Das Kind lachte. Es kaute weiter, schien den Herrn Paten wenig zu verstehen und schien vor allen Dingen mit allem zufrieden zu sein, was ihm zwischen die gesunden glänzenden Zähne kam. – Die Witwe Bebenroth kam mit einem leeren Korbe zurück, trat patzig in die Stube, schlug die Arme unter und sagte grimmig, verdrossen und voll höhnischen Triumphes:

»Nichts! Alles ratzenkahl – der letzte Knochen für die Hunde. Sapperment, ist das ein Umstand!«

»Sapperment«, brummte der Justizrat. »Weib, ich hätte Lust, dir einen Kriminalprozeß auf den Hals zu hängen!«

Da setzte die Witwe ihren Korb nieder und verzog den Mund zu einem neuen Geheul:

»Oh, Herr Rat, ich habe noch einen Schinken im Rauch. Mein letzter Seliger ist dieses sein letztes Frühjahr durch mit langer Zunge drumherum gegangen, und ich habe ihn leider Gottes mehr als einmal von der Leiter heruntergezogen und ihm das Messer aus den Händen gerissen. Ach Gott, ach Gott, hätte ich gewußt, daß dies sein letztes Frühjahr sein sollte, so hätte ich ihn gut und gern mit seiner Gier dran gelassen. Ein Drache bin ich nicht, sondern nur eine arme, elende Witfrau, Herr Justizrat, und das wissen Sie seit sechs Jahren am besten.«

»Herunter mit dem Schinken! Her mit ihm!« rief Scholten; doch sein kleiner Gast stand auf, knickste höflich und sagte:

»Ich bin ganz satt, Herr Pate; ich danke auch schön.«

»Sapperment«, wiederholte Scholten, und die Witwe Bebenroth murmelte etwas von einer »diebischen, gefräßigen Kröte« und verschwand, auch diesmal ihren Schinken noch rettend.

»Sie hat das Huhn doch sich selber genommen«, flüsterte Eilike Querian, und dann trug sie Teller und Brot und Messer ein jegliches an seinen Platz und wischte den Tisch ab mit einem Flederwisch, den sie vom Nagel hinter dem Ofen holte, brachte auch den Gänseflügel wieder an seinen Ort, kam zurück an den Tisch und auf ihre Bank und hub nun an, bitterlich zu weinen. Die Tränenflut kam so überraschend für die Frau Salome, daß sie beinahe erschrak und jedenfalls ihren Stuhl höchst verdutzt zurückschob. Der Justizrat, mit den Zuständen seines kleinen Gastes bekannt, zog nur ganz unmerklich die struppigen grauen Augenbrauen zusammen, schob die Brille auf die Stirn und fragte:

»Also es ist einmal wieder gar nicht auszuhalten zu Hause, mein Mädchen?«

»Ich bin aus dem Fenster gestiegen. Es ist böse von mir; aber er hat es gottlob nicht gemerkt. Ich meine, ich könnte sterben, ohne daß er es merkte.