Er hat mich wieder nackt abgebildet, daß ich mich vor mir selber fürchte –«

»Er ist verrückt: und wenn wir sechsmal aus einem Neste sind, meine Geduld mit ihm ist zu Ende!« rief der Justizrat, die Faust schwer auf die Tischplatte fallen lassend. »Es ist unverantwortlich, daß ich ihm nicht schon längst die Tür habe aufbrechen lassen; aber es soll heute abend – jetzt gleich – noch geschehen. Er soll hervor! Einen andern Herbst und Winter durch lasse ich dich nicht mehr mit ihm allein, mein armes Kind! Er ist unzurechnungsfähig; ich werde jetzt auf der Stelle mit dem Vorsteher reden und mich diese Nacht noch mit einer Darlegung der Verhältnisse an die zuständigen Behörden wenden. Sie sollen mir die Vormundschaft über ihn und dich legaliter übertragen. Zum Henker, es ist kaum zu glauben, was alles den verständigen Leuten in dieser Welt über den Kopf wachsen will! Prometheus?! Oh, der Narr soll mir nur mit seiner Dummheit kommen Am Kaukasus werde ich ihn nicht festschmieden lassen, wohl aber solide und behaglich in das Landesirrenhaus setzen lassen. Ichor?! Sapperment, die Doktoren und Chirurgen nennen das auch serum sanguinis, Wundwasser – Eiter und Jauche! Ich werde ihn an den Ohren hervorziehen – beim Zeus, das heißt dem verständigen, klaren, blauen Himmel, das werde ich.«

Ja, beim unbewölkten Zeus, der es aber versteht, Wolken zu sammeln und tüchtig zu regnen: der Justizrat Scholten sah in diesem Moment nicht aus, als ob er viel von dem Blute der Götter in den Adern der erdgeborenen Menschen halte! Wie ein alter Kater sah er aus oder, edler gesagt, wie ein Schwurgerichtspräsident, der bei ausgeschlossener Öffentlichkeit über einen mit dem Untergange von Sodom und Gomorrha in Verbindung zu bringenden Fall zu Gerichte sitzt.

Die Frau Salome sah noch verdutzter auf ihn wie vorhin auf die so unvermutet in Tränen zerfließende Eilike. Das Kind hielt angsthaft, mit offenem Mund, in der offenen Hand den Groschen hin, welchen es Vorhin für einen Botenweg von einer gutherzigen Seele im Dorfe zur Belohnung empfangen hatte; – der alte Jurist erschien in demselben Grad erregt wie vorhin, als er, wutentbrannt ob des fehlenden Hühnerbratens und seines Topfes voll Zwetschen, in die Küche der Witwe Bebenroth stürzte, und er beruhigte sich in demselben Grade rasch wie nach jenem Zornausbruche.

Die gesträubten Brauen glätteten sich, die grimmigen Falten legten sich wieder in die gewöhnlichen Furchen zurecht, und der Justizrat sprach zur Frau Salome:

»Euer Gnaden verwundern sich? Euer Gnaden haben keine Ursache, sich zu wundern. Aber dieser Querkopf, dieser Querian, macht mir die Sache dann und wann zu arg, und wie er die Eilike traktiert, das hat sie Ihnen eben selber vorgetragen. Ein altes Vieh bin ich nicht, wie eben meine Witwe da draußen brummt, und wenn ich einmal den Polyphem herauskehre, so hat das gewöhnlich seine guten Gründe. Eilike, mein Herz, wie oft hab ich es dir verboten, von den Leuten Geld zu nehmen!«

»Oh, sie geben es mir aus gutem Herzen.«

»Und aus Mitleid«, ächzte Scholten. »Das ist der Jammer, und – der Querian gehört doch ins Irrenhaus. Du aber nimmst es aus Dummheit, mein Kind, und so muß ich auch das gehen lassen, wie es geht. Es ist, um sich die Haare auszuraufen!«

Die Frau Salome von Veitor hatte selten in ihrem Leben die anderen Menschen so lange allein reden lassen. Jetzt jedoch hielt sie es nicht länger aus, und es war ihr eigentlich auch nicht zu verdenken, wenn sie endlich eine genauere Einsicht in die Umstände der Leute wünschte, deren Bekanntschaft sie in so absonderlicher Art machte.

»Wenn ich hier nicht in die Höhle des Polyphemos geraten bin, so ist's vielleicht die Grotte des Trophonios. Nun warte ich aber mit Schmerzen auf die kluge, geheimnisvolle Stimme aus dem Dunkeln, Justizrat. Und auch der Esel draußen vor der Tür wird allgemach ungeduldig, und ich bin es gewohnt, auch auf ihn einige Rücksicht zu nehmen.«

Sie sagte das letztere lachend, aber es zitterte doch eine ganz andere Bewegung in der Stimme, mit welcher sie hinzusetzte:

»Was dieses Kind ist, sehe ich. Wie es geworden ist, kann ich mir in hundertfacher Weise vorstellen. Wie da zu helfen wäre, kann ich mir auch auslegen; – im Grunde ist da noch wenig versäumt und verloren. Aber wer und was ist dieser unheimliche Herr mit dem verqueren Namen? Querian! Hat je ein Mensch ein ehrlich Handwerk getrieben, ein Geschäft gemacht oder in der Gelehrsamkeit es zu etwas gebracht mit einem Namen wie dieser?«

»Nein«, erwiderte der Justizrat, »und deshalb hat der Unglückliche es in der Kunst versucht, und es ist bis dato ihm auch damit nicht geglückt, wenngleich dieses noch am ersten das Feld war, worauf er Querian heißen konnte. Ein Doktor Querian, ein Pastor Querian und ein Geheimrat Querian sind freilich vollkommen unmöglich. Weshalb hieß der Tropf nicht Scholten und brachte es zu einer anständigen Stufe auf der Leiter bürgerlicher Respektabilität?!«

»Also Mr. Shandy hat da wieder einmal recht?«

»Wieder einmal, Gnädige; aber: ›nomina omina‹ sagen schon die Lateiner. Was die Eilike angeht, so habe ich da eine homöopathische Kur gebraucht und den Haus- durch den Taufnamen heruntergedrückt. Als Eilike Querian kann man es am Ende doch noch zu etwas bringen, sowohl im Romane wie im gewöhnlichen Leben. Nicht wahr, mein Kind, es wird doch noch etwas aus uns, und die Sonne scheint uns nicht nur in den Mund, sondern auch in das Herz. Ein wenig Hunger dann und wann bewirkt nur, daß wir den Mund ein wenig weiter aufsperren –«

»Die Witwe Bebenroth darf uns dann aber nicht zu häufig zwischen das Glück und unseren Instinkt oder Appetit geraten. Lieber Freund, was die Sonne anbetrifft, so ist dieselbe heute bereits seit einiger Zeit untergegangen, und ich habe, wie Sie wissen, noch einen ziemlichen Weg nach Hause vor mir. Was treibt, was schafft Ihr kurioser Freund und Gevatter? Es wird Dämmerung, und ich habe über keinen Hippogryphen zu verfügen, der mich aus diesem Reiche der Romantik in meine modernen, nüchternen vier Pfähle zurückbringt.«

»Er bildet Menschen, Frau Salome. Machwerke, die von ferne so aussehen, in der Nähe aber immer ein wenig anders.