Zwischen zwei barfüßigen Häuslerkindern, die grobe, durchlöcherte Jacken trugen, nahm er Platz. An den Schultern seiner Vordermänner vorbei sah er drüben die Mädchen sich ordnen, die Vornehmsten zuerst, dann die ärmlich Gekleideten.
Er dachte darüber nach, ob im Himmel die Reihenfolge wohl eine ähnliche sein werde, und der Spruch fiel ein: »Wer sich erniedrigt, der soll erhöhet werden.«
Der Pfarrer kam.
Es war ein behäbiger Mann mit einem Doppelkinn und einem blonden Backenbärtchen. Seine Oberlippe schimmerte blank von dem häufigen Rasieren. Er trug nicht seinen Talar, sondern einen einfachen schwarzen Rock, sah aber doch sehr würdig und feierlich aus.
Er sprach zuerst ein langes Gebet über den Text: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« und knüpfte daran die Ermahnung, das kommende Jahr als eine Zeit der Weihe zu betrachten, nicht zu tollen und nicht zu tanzen, denn das widerspräche der Würde eines Religionsschülers.
»Ich habe nie getollt und getanzt,« dachte Paul und war in diesem Augenblick ganz von Stolz erfüllt über seinen gottseligen Wandel. »Aber schade war's doch« – dachte er hinterher.
Dann pries der Pfarrer die vornehmste der christlichen Tugenden: die Demut. Niemand in dieser Kinderschar sollte sich über den anderen erhaben fühlen, weil seine Eltern vielleicht reicher und vornehmer wären als die seiner Mitbrüder und Mitschwestern. Denn vor Gottes Throne wären alle gleich.
»Aha, da habt ihr's!« dachte Paul und faßte liebevoll den Arm seines zerlumpten Nachbarn. Der dachte, er wolle ihn kneifen, und sagte: »Au, nicht doch!«
Drauf zog der Pfarrer ein Blatt Papier aus der Tasche und sagte: »Jetzt will ich die Rangordnung verlesen, in der ihr fortan sitzen sollt.«
»Warum denn eine Rangordnung,« dachte Paul, »wenn vor Gottes Throne alle gleich sind?«
Der Pfarrer sagte: »Zuerst kommen die Mädchen und dann die Knaben,« und begann zu lesen.
Schon der erste Name machte Paul stutzig, denn er hieß – Elsbeth Douglas. Er sah ein hochaufgeschossenes, blasses Mädchen mit einem frommen Gesicht und schlicht zurückgestrichenen blonden Haaren sich erheben und nach dem ersten Platze hinschreiten.
»Also das bist du!« dachte Paul, »und wir sollen zusammen eingesegnet werden.« Das Herz klopfte ihm vor Freude und auch vor Angst, denn er fürchtete zugleich, daß er ihr zu gering erscheinen werde. – »Vielleicht besinnt sie sich gar nicht mehr auf dich,« dachte er weiter.
Er beobachtete sie, wie sie mit niedergeschlagenen Augen sich auf ihren Platz setzte und freundlich vor sich hinlächelte.
»Nein, die ist nicht stolz,« sagte er leise vor sich hin, aber zur Sicherheit besah er seine Jacke.
Dann wurden die Knaben aufgerufen. Zuerst kamen die beiden Brüder Erdmann. Die hatten sich schon ohnehin auf den ersten Plätzen breitgemacht, und dann wurde sein eigener Name gerufen. – In diesem Augenblick machte Elsbeth Douglas es genauso, wie er vorhin getan. Sie hob rasch den Kopf und spähte zu den Reihen der Knaben hinüber.
Als er sich auf seinen Platz gesetzt hatte, schaute auch er vor sich auf die Erde nieder, denn er wollte es ihr an Demut gleichtun, und wie er dann aufblickte, sah er ihr Auge voll Neugier auf sich ruhen. Er wurde rot und tupfte ein Federchen von dem Ärmel seiner Jacke.
Und dann begann der Unterricht. Der Pfarrer erklärte Bibelsprüche und fragte Gesangbuchlieder ab. Elsbeth kam zuerst an die Reihe. Sie hob ein wenig den Kopf und sagte ruhig und unbefangen ihre Verse her.
»Donnerja, die Margell hat Courage,« murmelte der jüngere Erdmann, der zu seiner linken Seite saß.
Paul fühlte sich von plötzlichen Ingrimm gepackt. Er hätte ihn mitten in der Kirche prügeln mögen. »Sagt er noch einmal ›Margell‹ auf sie, so hau' ich hernach auf ihn los.« Das versprach er sich feierlich. Aber der jüngere Erdmann dachte nicht mehr an sie, er beschäftigte sich damit, seinen Hintermännern Stecknadeln in die Waden zu stechen.
Als die Stunde beendet war, verließen zuerst die Mädchen paarweise die Kirche. Erst als die letzten draußen waren, durften die Knaben ihnen folgen. Auf dem Vorplatze begegnete er Elsbeth, die nach ihrem Wagen schritt. Beide sahen sich ein wenig von der Seite an und gingen aneinander vorüber.
An ihrem Wagen stand eine alte Dame mit grauen Ringellocken und einem persischen Umschlagetuch, die im Pfarrhause auf sie gewartet haben mußte. Sie küßte Elsbeth auf die Stirn, und beide bestiegen die Rücksitze. Der Wagen war der schönste in der ganzen Reihe, der Kutscher trug eine schwarze Pelzmütze mit einer roten Troddel daran, auch hatte er blanke Tressen am Kragen und an den Aufschlägen der Ärmel.
Gerade als der Wagen fortgefahren war, wurde Paul von den beiden Erdmanns angefallen, die ihn ein wenig prügelten.
»Pfui, schämt euch, zwei gegen einen,« sagte er, da ließen sie ihn laufen.
Er ging vergnügt dem Heimathause zu. Die Mittagssonne glitzerte auf der weiten Heide, und in nebelnder Ferne fuhr der Wagen vor ihm her, wurde kleiner und kleiner und verschwand endlich als ein schwarzer Punkt in dem Fichtenwalde.
Als er zu Hause ankam, küßte ihn die Mutter auf beide Wangen und fragte: »Nun, wie war's?«
»Ganz nett,« erwiderte er, »und, Mama, die Elsbeth aus dem ›weißen Hause‹ war auch da.«
Da wurde sie ganz rot vor Freude und fragte nach allerlei, wie sie aussähe, ob sie hübsch geworden sei und was sie mit ihm gesprochen habe.
»Gar nichts,« erwiderte er beschämt, und als die Mutter ihn daraufhin erstaunt ansah, fügte er eifrig hinzu: »Du, aber stolz ist sie nicht.« ...
Am nächsten Montag fand er sie bereits an ihrem Platze sitzen, als er die Kirche betrat. Sie hatte die Bibel auf den Knien liegen und lernte die aufgegebenen Sprüche.
Es waren noch nicht viele Kinder anwesend, und als er sich ihr gegenüber niedersetzte, machte sie eine halbe Bewegung, als wolle sie aufstehen und zu ihm herüberkommen, aber sie ließ sich wieder nieder und lernte weiter.
Die Mutter hatte ihm vor dem Weggehen anempfohlen, Elsbeth einfach anzureden. Sie hatte ihm viele Grüße an ihre Mutter aufgetragen, auch sollte er sich erkundigen, wie es ihr selber erginge. Er hatte sich während des Weges eine lange Rede einstudiert – nur war er sich noch darüber uneins, ob er »du« oder »Sie« zu ihr sagen solle.
1 comment