– »Du« wäre das einfachste gewesen. Die Mutter schien es sogar für selbstverständlich zu halten, aber »Sie« klang entschieden feiner – so hübsch erwachsen klang es. Und da er zu keinem Entschlusse kommen konnte, so unterließ er die Anrede ganz. – Auch er nahm nun seine Bibel vor, und beide stützten die Ellbogen auf die Knie und lernten um die Wette.

Ihm nützte es nicht viel, denn als hernach in der Stunde der Pfarrer an ihn die Frage richtete, hatte er keine Ahnung mehr. –

Ein peinliches Schweigen entstand, die Erdmänner lachten schadenfroh, und er, glutrot vor Scham, mußte sich wieder auf seinen Platz niedersetzen. Er wagte nun nicht mehr aufzuschauen, und als er beim Verlassen der Kirche Elsbeth vor der Türe stehen sah, als wartete sie auf etwas, schlug er die Augen nieder und wollte rasch an ihr vorüber. – Sie aber trat einen Schritt auf ihn zu und redete ihn an: »Meine Mama hat mir aufgetragen, ich soll dich fragen – wie's deiner Mutter ginge.«

Er erwiderte, es ginge ihr gut.

»Und sie läßt sie auch vielmals grüßen,« fuhr Elsbeth fort.

»Und meine Mutter läßt deine Mutter auch vielmals grüßen,« erwiderte er, Bibel und Gesangbuch zwischen den Fingern drehend, »und ich soll dich auch fragen, wie's ihr ginge.«

»Mama läßt sagen,« entgegnete sie, wie wenn man Auswendiggelerntes hersagt, »sie sei viel kränklich und müßte sehr oft das Zimmer hüten, aber jetzt im Frühling ging's ihr besser – und ob du nicht mit unserem Wagen mitfahren möchtest bis zu deinem Hause. Ich soll's dir anbieten, hat sie gesagt.«

»Kiek, der Meyhöfer raspelt Süßholz,« rief der ältere Erdmann, der sich hinter der Kirchentür verborgen hatte, um seine Kameraden durch den Ritz hindurch mit einem Röhrchen zu kitzeln.

Elsbeth und Paul sahen erstaunt einander an, denn sie kannten den Sinn der Redensart nicht, aber da sie fühlten, daß sie etwas sehr Schlimmes bedeuten mußte, wurden sie rot und trennten sich.

Paul schaute ihr nach, wie sie auf ihren Wagen stieg und davonfuhr. Diesmal wartete die alte Dame nicht auf sie. Es war ihre Gouvernante, wie er gehört hatte. Ja, so vornehm war sie, daß sie sogar eine eigene Gouvernante besaß!

»Die Erdmänner kriegen doch noch ihre Prügel,« damit schloß er seine Überlegungen. – – –

Die nächsten Wochen vergingen, ohne daß er mit Elsbeth wieder geredet hätte. Wenn er in die Kirche trat, saß sie meistens schon an ihrem Platze. Dann nickte sie ihm freundlich zu, aber das war auch alles.

Und dann kam ein Montag, an dem ihr Wagen nicht auf sie wartete. Er bemerkte es sofort, als er auf den Kirchenplatz zuschritt, und atmete erleichtert auf, denn der stolze Kutscher mit der Pelzmütze, die er selbst mitten im Sommer trug, verursachte ihm stets ein beklemmendes Gefühl. Er brauchte nur an den Kutscher zu denken, wenn er ihr gegenübersaß, und sie erschien ihm wie ein Wesen aus einer anderen Welt.

Heute wagte er fast vertraulich zu ihr hinüber zu grüßen, und es erschien ihm, als wenn auch sie seinen Gruß freundlicher denn sonst erwiderte.

Und als die Stunde beendet war, trat sie aus freien Stücken auf ihn zu und sagte: »Ich muß heute zu Fuß nach Hause, denn unsere Fuhrwerke sind alle auf dem Felde. Mama hat gemeint, du könntest wohl ein Stück mit mir zusammengehen, da wir doch denselben Weg haben.«

Er fühlte sich sehr beglückt, wagte aber nicht an ihre Seite zu treten, solange sie sich innerhalb des Dorfes befanden. Auch schaute er sich von Zeit zu Zeit ängstlich um, ob nicht die beiden Erdmänner irgendwo mit ihren Stachelreden auf ihn lauerten.

Doch als sie draußen auf freiem Felde dahingingen, fand es sich von selbst, daß sie nebeneinander schritten.

Es war ein sonniger Junivormittag. Der weiße Sand des Weges flimmerte ... Ringsherum blühten goldgelbe Katzenpfötchen, und das Wiesenfrauenhaar wehte in dem warmen Winde ... vom Dorfe her tönte die Mittagsglocke ... Kein Mensch war weit und breit zu sehen ... Die Heide schien wie ausgestorben.

Elsbeth trug einen breiten Strohhut auf dem Kopfe, zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen. Den nahm sie jetzt ab und schlenkerte ihn am Gummibande hin und her.

»Es wird dir zu heiß werden,« sagte er, aber da sie ihn ein wenig auslachte, riß er auch seine Mütze vom Kopfe und warf sie hoch in die Luft.

»Du bist ja ein ganz lustiger Bursche,« sagte sie beifällig nickend.

Er schüttelte den Kopf, und seine Stirne zog sich wieder in die ernsten Falten, die ihn stets alt erscheinen ließen.

»Ach nein,« sagte er, »lustig bin ich nicht.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Ich habe immer an so vielerlei zu denken,« erwiderte er, »und wenn ich einmal recht froh sein will, kommt mir sicher etwas in die Quere.«

»Woran hast du denn immer zu denken?« fragte sie.

Er sann eine Weile nach, aber es fiel ihm gerade nichts ein. »Ach, es ist ja alles dumm' Zeug,« sagte er, »kluge Gedanken kommen mir überhaupt nicht.«

Und dann erzählte er ihr von den Brüdern, von dicken Büchern, die ganz mit Zahlen vollgeschrieben ständen – den Namen habe er vergessen – und die sie schon auswendig gekonnt hätten, als sie so alt gewesen wären wie er selber.

»Warum lernst du das nicht auch, wenn es dir Vergnügen macht?« fragte sie.

»Es macht mir aber kein Vergnügen,« erwiderte er, »ich habe einen so schweren Kopf.«

»Aber irgend etwas wirst du doch können?« fragte sie weiter.

»Ich kann rein gar nichts,« erwiderte er traurig, »ich sei so dumm, sagt der Vater.«

»Du – darauf mußt du nichts geben,« tröstete sie ihn, »mein Fräulein Rathmaier hat auch immer allerhand an mir auszusetzen. Aber ich – pah, ich –« Sie schwieg und riß eine Sauerampferstaude aus, an der sie kaute.

»Hat dein Vater noch immer so blitzende Augen?« fragte er.

Sie nickte, und ihr Antlitz verklärte sich.

»Du hast ihn wohl sehr lieb – deinen Vater?«

Sie sah ihn erstaunt an, als ob sie seine Frage nicht verstünde, dann meinte sie, o ja – sie hätte ihn sehr lieb.

»Und er dich auch?«

»Ob!«

Er pflückte sich nun gleichfalls einen Sauerampferstengel und seufzte dabei.

»Warum seufzt du denn?« fragte sie.

Es käme ihm zufällig was in den Sinn, meinte er, und dann fragte er lachend, ob ihr Vater sie wohl noch manchmal auf den Schoß nähme wie damals, als er im »weißen Hause« gewesen war.

Sie lachte mit und meinte, sie sei ja schon ein großes Mädchen, und er solle nicht so dumm fragen, aber hinterher kam's heraus, daß sie doch noch auf des Vaters Schoß sitze, »freilich nicht mehr rittlings,« fügte sie lachend hinzu.

»Ja, das war ein schöner Tag,« sagte er, »und ich saß auf seinem andern Knie. Wie klein müssen wir damals gewesen sein!«

»Und dumm waren wir, daß Gott erbarm!« erwiderte sie, »wenn ich noch daran denke, wie du pfeifen wolltest und nicht konntest.«

»Hast du das behalten?« fragte er, und sein Auge leuchtete auf im Bewußtsein seiner jetzigen Kunst.

»Natürlich,« sagte sie, »und als du fortgingst, kamst du noch einmal zurückgelaufen und – weißt du noch?«

Er wußte es genau.

»Heute wirst du wohl pfeifen können,« lachte sie, »in unserem Alter ist das keine Heldentat mehr – kann ich es doch sogar!« – und sie spitzte die Lippen in sehr drolliger Weise.

Ihm tat es weh, daß sie von seiner Kunst so geringschätzig sprach, und er dachte darüber nach, ob er das Pfeifen fortan nicht lieber ganz unterlassen sollte.

»Warum bist du so schweigsam?« fragte sie, »bist du auch müde?«

»Ach nein, aber du – was?«

Ja – der Fußweg in Sand und Mittagshitze habe sie angestrengt.

»So komm zu uns ins Haus und ruhe dich aus,« rief er leuchtenden Auges, denn er gedachte der Freude, die die Mutter bei ihrem Anblick empfinden würde.

Aber sie dankte. »Dein Vater ist nicht gut zu sprechen auf uns, hat Mama gesagt, und darum dürft ihr auch nicht nach Helenental zum Besuche kommen. Dein Vater würde mich vielleicht vom Hofe weisen.«

Er erwiderte hochrot: »Das würde der Vater wohl nicht« – und er schämte sich sehr.

Sie warf einen Blick nach dem Heidehof hinüber, der kaum dreihundert Schritt abseits vom Wege gelegen war. Der rote Zaun leuchtete im Sonnenglanze, und selbst die grauen, verfallenen Scheunen schauten freundlicher darein als sonst.

»Es ist ganz hübsch bei euch,« sagte sie, die linke Hand wie einen Schirm über die Augen legend.

»O ja,« erwiderte er, das Herz von Stolz geschwellt, »und an dem einen Scheunentor ist eine Eule angenagelt.