– – – Aber es soll noch viel, viel hübscher bei uns werden,« fügte er nach einer kleinen Weile ernsthaft hinzu. »Laß mich nur erst ans Regiment kommen.« Und dann begann er ihr seine Zukunftspläne auseinanderzusetzen. Sie hörte ihm aufmerksam zu, aber als er geendet hatte, sagte sie noch einmal: »Ich bin müde – muß mich ausruhen.« Und sie machte Miene, sich auf dem Grabenrande niederzusetzen.

»Nicht hier in der Sonnenhitze,« warnte er, »komm, wir suchen uns den ersten, besten Wacholderstrauch.«

Sie reichte ihm die Hand und ließ sich müde von ihm über den Heiderasen ziehen, der von Maulwurfshügeln geschwellt war wie ein wellenschlagender See, und der gegen den Waldesrand hin vereinzelte Wacholderbüsche trug, die wie eine Schar schwarzer Gnomen von der ebenen Fläche emporragten.

Unter dem ersten dieser Gebüsche hockte sie nieder, so daß dessen Schatten ihre zarte, schmale Gestalt fast ganz umhüllte.

»Hier ist gerade noch Platz für deinen Kopf,« sagte sie, auf einen Maulwurfshügel weisend, der sich noch im Bereiche des Schattens befand.

Er streckte sich der Länge nach auf dem Rasen hin, den Kopf auf dem Maulwurfshügel gebettet, die Stirn vom Saume ihres Kleides bedeckt.

Sie lehnte sich müde in das Dickicht des Busches zurück, um in dessen Geästel eine Stütze zu finden.

»Die Nadeln stechen gar nicht,« sagte sie dann, »sie meinen's gut mit uns; ich glaube, wir könnten auch durch Dornröschens Hecke gehen.«

»Du – nicht ich,« erwiderte er, die Augen im Liegen zu ihr aufschlagend, »mich hat noch jeder Dorn gestochen – ich bin kein Märchenprinz, nicht einmal ein lumpiger Hans-im-Glücke bin ich.«

»Wird alles noch kommen,« tröstete sie; »du mußt nicht immer so traurige Gedanken haben.«

Er wollte ihr etwas erwidern, aber die richtigen Worte fehlten ihm, und wie er nachsinnend emporschaute, flog droben am blauen Himmel eine Schwalbe vorüber. Da stieß er unwillkürlich einen Pfiff aus, als ob er sie heranlocken wollte, und als sie nicht kam, pfiff er noch einmal und zum zweiten- und zum drittenmal.

Elsbeth lachte, er aber pfiff weiter – erst ohne zu wissen, wie? und ohne nachzudenken, warum? aber als ein Ton nach dem andern seinen Lippen entquoll, ward ihm zu Sinn, als sei er plötzlich sehr beredsam geworden, und als ob er auf diese Weise alles sagen könnte, was ihm das Herz bedrückte und wozu er in Worten nimmer den Mut gefunden haben würde ... All das, was ihn traurig machte und um was er sich sorgte, kam zum Vorschein. Er schloß die Augen und hörte gleichsam zu, wie die Töne für ihn sprachen. Er glaubte, der liebe Gott im Himmel hätte statt seiner das Wort genommen und erzählte alles, was ihn anging, sogar das, worüber er selbst nie klar geworden war.

Als er die Augen aufschlug, wußte er nicht, wie lange er so dagelegen und gepfiffen hatte, aber er sah, daß Elsbeth weinte.

»Warum weinst du?« fragte er.

Sie gab ihm keine Antwort, wischte sich mit dem Taschentuch die Augen und erhob sich.

Schweigend schritten sie eine Weile miteinander hin. – Als sie den Wald erreichten, der dicht und dunkel vor ihnen lag, blieb sie stehen und fragte: »Wer hat dich das gelehrt?«

»Keiner,« sagte er, »das ist mir so von selber gekommen.«

»Kannst du auch Flöte spielen?« fragte sie weiter.

Nein, er konnte es nicht, er hatte es auch nie gehört, er wußte nur, daß es des alten Fritzen Lieblingsvergnügen gewesen war.

»Das mußt du lernen!« sagte sie.

Er meinte, es würde ihm wohl zu schwer sein.

»Du solltest es doch versuchen,« riet sie, »du mußt ein Künstler werden – ein großer Künstler.«

Er erschrak, als sie das sagte. Er getraute sich kaum, ihren Gedanken weiter zu denken.

Als sie den jenseitigen Waldrand erreicht hatten, trennten sie sich. – Sie schritt weiter dem »weißen Hause« zu – und er kehrte um. Wie er den Wacholderbusch wiedersah, unter dem sie beide gesessen hatten, kam ihm alles wie ein Traum vor, und so blieb es auch fortan. – – –

Zwei, drei Tage vergingen, ehe er der Mutter etwas von seinem Abenteuer zu sagen wagte, aber dann hielt er es nicht länger aus und gestand ihr alles.

Die Mutter sah ihn lange an und ging hinaus, aber von jetzt ab lauschte sie heimlich, ob sie nicht einen Ton von seinem Pfeifen erhaschen könnte.

Die beiden Kinder gingen noch oftmals mitsammen heim, aber eine solche Stunde, wie die unter dem Wacholderbusch, kam ihnen nie mehr wieder.

Wenn sie an ihm vorüberschritten, sahen sie einander an und lächelten, aber keines wagte den Vorschlag zu machen, noch einmal unter ihm niederzusitzen.

Auch des Flötenspiels geschah nicht mehr Erwähnung zwischen ihnen, Paul jedoch dachte heimlich oft genug daran. Es erschien ihm wie etwas Himmlisches, Unerhörtes, gleich der Wissenschaft, die die Logarithmentafeln lehrten. Ja, wenn er klug und begabt gewesen wäre wie die beiden Brüder! – aber er war ja nur ein dummer, einfältiger Junge, der froh sein konnte, wenn man ihn für die andern sorgen ließ.

Gar oft fragte er sich, wie wohl solch ein Flötenspiel klingen möchte und wie diejenigen beschaffen wären, die es verstanden. Er hatte eine sehr große Meinung von ihnen und glaubte, daß sie stets so hohe und heilige Gedanken hegen mußten, wie sie ihm selber nur in sehr wenigen Momenten aufstiegen, wenn er sich recht in sein Pfeifen vertiefte.

Und dann kam der Tag, an dem er einen Flötenspieler von Angesicht zu Angesicht erschauen sollte.

Es war an einem trüben, stürmischen Nachmittag im Monat November. Es fing schon an, dunkel zu werden, als er die Schule verließ und langsam die Dorfstraße entlang wanderte, um heimzukehren. Da drangen aus einer Branntweinschenke, in der das Gesindel der Gegend zu verkehren pflegte, gar seltsame Töne an sein Ohr. Er hatte sie nie gehört, aber er wußte sofort: das muß ein Flötenspieler sein. Horchend blieb er vor der Tür der Schenke stehen. Sein Herz klopfte ganz laut, seine Glieder zitterten. Die Töne waren ähnlich wie sein Pfeifen, aber weit voller und weicher. »So müssen die Engel an Gottes Thron musizieren,« dachte er sich.

Nur eines war ihm unerklärlich, wie dieses Flötenspiel, das so klagend und sehnsüchtig klang, an einen so verrufenen Ort geraten konnte. Das Schreien und Johlen und Gläserklirren, das zwischendurch erscholl, tat seiner Seele weh, ein plötzlicher Grimm packte ihn; wenn er groß und stark gewesen wäre, er würde hineingesprungen sein und würde die Lärmenden und Trunkenen samt und sonders auf die Straße hinausgeworfen haben, damit die heiligen Töne nicht entweiht würden.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, ein trunkener Arbeiter taumelte an ihm vorüber – übelriechender Qualm drang ihm entgegen ... Lauter noch wurde das Lärmen ... Kaum war das Flötenspiel imstande, es zu übertönen.

Da faßte er sich ein Herz, und ehe noch die Tür geschlossen wurde, drängte er sich durch den schmalen Spalt in das Innere der Schenke ... Hinter ein leeres Branntweinfaß gedrückt, stand er da ... Niemand achtete auf ihn.

In den ersten Augenblicken unterschied er nichts ... Dunst und Lärm hatten seine Sinne ganz benommen, und die Töne der Flöte wurden schrill und mißtönig, so daß sie seinem Ohre wehtaten.

Inmitten der Schreienden und Stampfenden saß auf einem umgestülpten Fasse ein zerlumpter Kerl mit einem aufgequollenen, finnigen Gesicht, einer Schnapsnase und schwarzen, fettigen Haaren – eine Gestalt, deren Anblick Paul einen Schauder über den Leib jagte ... Der war es, welcher die Flöte blies.

Wie versteinert vor Entsetzen starrte er ihn an. Ihm war zumute, als sänke der Himmel ein, als ginge die Welt zugrunde.