Paul hatte die Nacht über nicht schlafen können, vor Sonnenaufgang stand er leise auf, zog die neuen schwarzen Tuchkleider an, die die gute Tante ihm zu diesem Feste geschenkt hatte, und machte einen Rundgang über den stillen Hof und die tauigen Felder, bis zu dem Moore hin, das mit seinem Blumengewande gar feiertäglich vor ihm lag. Im Angesicht der aufgehenden Sonne faltete er seine Hände und sprach ein inbrünstiges Gebet. Mit diesem Tage wollte er ein neues, besseres Leben beginnen, alle Unbill vergeben und seine Feinde lieben, wie es Jesus Christus befohlen ... Da fiel ihm das Messer ein, das er einst für die Erdmänner geschliffen, er riß es aus der Tasche und schleuderte es mitten in das Moor hinein, wo es mit einem gurgelnden Laute im Brachwasser versank. – Heiße Tränen stürzten aus seinen Augen. Schlecht und verworfen erschien er sich und gänzlich unwürdig, vor Gottes Altar zu treten ... Kaum wagte er auf den Hof zurückzukehren, erst als die Zwillinge in ihren nagelneuen Mullkleidchen jubelnd auf ihn zustürzten, ward ihm freier und leichter ... Er umarmte die Schwestern und gelobte sich im stillen, ihnen ein treuer Helfer und Freund zu werden.
Dann kam die Mutter, mit einem verschossenen Seidenkleide angetan, küßte ihn auf Stirn und Wangen und hielt sein Gesicht lange zwischen ihren beiden Händen, indem sie ihm unverwandt in die Augen schaute. – Sie wollte etwas sagen, aber sie brachte nichts weiter zum Vorschein als: »Mein Junge, mein lieber Junge.«
Selbst der Vater war heute in rosigster Laune. Er faßte seine beiden Hände und hielt ihm eine lange Rede, wie er lernen müsse, auf das Große im Menschenleben seinen Blick zu heften und ihm, dem Vater, nachzueifern, der zwar stets vom Unglück verfolgt und von der Schlechtigkeit der Menschen ausgeplündert worden sei, der sich aber nie habe entmutigen lassen, zu den Sternen emporzustreben, selbst aus diesem elenden Loche heraus, in dem ein feindliches Schicksal ihn habe versinken lassen. Und er runzelte seine Brauen und wühlte sich in seinen Haaren, Zoll um Zoll Erhabenheit und Geistesgröße.
Paul küßte seine beiden Hände und versprach alles.
Um acht Uhr sah er auf dem Fahrweg, der über die Heide führte, eine Karosse vorbeirollen, deren silberner Zierat im Morgensonnenstrahle glitzerte.
Lange blickte er dem Wagen nach. Ihm war alles wie ein Traum ... Er fühlte sich so unendlich wohl, daß ihm ganz beklommen wurde vor lauter Glück. »Womit hab' ich das verdient?« fragte er sich, und darauf fing er an nachzugrübeln, wie wohl der erste Kummer beschaffen sein werde, der ihn dieser Seligkeit entreißen würde. – Als die Zwillinge ihm ankündigten, daß der Wagen zur Kirchenfahrt bereitstände, fühlte er sich traurig und gedrückt.
In dem Pfarrgarten, in dem Jasmin und Flieder blühten und auf dessen Rasen die Sonnenstrahlen glitzerten, standen zwei Menschenhäuflein, ein schwarzes und ein weißes, gesondert voneinander. Das erste waren die Knaben, das zweite die Mädchen.
Elsbeth in ihrem schneeigen Mullkleidchen, mit einem Spitzentüchlein über dem Busen, sah weiß und duftig aus wie eine Schlehdornblüte.
Ihre Wangen waren sehr blaß, sie hielt die Augen fortwährend gesenkt und spielte bald mit dem Gesangbuch, bald mit dem Fliederbüschel, welches beides sie in der Hand hielt.
Paul schaute lange zu ihr hinüber, aber sie sah ihn nicht. Sie mochte sich wohl in ihrer Andacht durch keinen weltlichen Gedanken stören lassen.
Und dann kam der Pfarrer. Die Glocken läuteten – und die Orgel rauschte – und langsam schritt der Zug, paarweise geordnet, nach dem Altar.
Paul ging dicht hinter den beiden Erdmännern, die in ihren schwarzen langen Tuchröcken gar ernst und ehrbar dreinschauten. Plötzlich kam das Bewußtsein seiner Schuld mit erneuter Gewalt über ihn. Er beugte sich ein wenig vor, stieß sie leise in den Nacken und flüsterte mit nassen Augen: »Vergebt mir! Ich habe euch viel Übles getan!«
Sie bohrten sich gegenseitig die Ellbogen in die Hüften und schmunzelten spitzbübisch. Einer drehte sich mit halber Wendung um und flüsterte mit einem Leidensgesichte, das ganz erfüllt war von verkannter und gekränkter Unschuld: »Mein Sohn, wir vergeben dir.«
Paul fühlte wohl, daß sie sich über ihn lustig machten, aber sein Herz war so voll von Andacht und Liebe, daß ihm kein Hohn der Welt etwas anhaben konnte.
Zu beiden Seiten des Altars ordneten sich die Kinderscharen.
Paul warf einen schüchternen Blick in das Kirchenschiff hinunter, das gedrängt voll von Menschen war, aber er vermochte niemanden zu erkennen.
Die Stunde der Predigt verging. Er starrte vor sich nieder. Alles war ihm wie ein Traum.
Eine Weile später fühlte er seine Knie auf einem weichen Polster ruhen und die Hand des Pfarrers auf seinem Haupte ... Was er zu ihm sprach, vernahm er nicht. Er sah Elsbeth drüben still in ihr Taschentuch weinen und dachte: »Weine nur, weine nur, wirst bald wieder lachen.«
Und dann fragte er sich, warum die Menschen wohl alle so viel lachten, während es doch im ganzen so wenig Lächerliches auf Erden gäbe.
Die Orgel stimmte das Lied: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren« an – hellauf jauchzte der Chor der Gemeinde – da wanderte sein Blick zur Sonne empor, die in regenbogenfarbenen Lichtern durch die bemalten Kirchenfenster brach.
Und wie er in das Farbenspiel hineinstarrte, erschrak er plötzlich. Gerade jenseits des Kreuzes, das den Altar krönte, stand in ungeheurer Größe eine düstere, in Grau gekleidete Frau und blickte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder ... Die Büßerin Magdalena war's.
Er fühlte, wie es ihn kalt durchschauerte.
»Frau Sorge,« murmelte er und beugte das Haupt, als wollte er in Demut empfangen, was sie ihm fürs Leben bescherte.
Und als er das Auge wieder erhob, strahlte die Sonne noch herrlicher denn zuvor.
Glührot und smaragden gleißten und glimmten die Flammen und woben eine Strahlenglorie um das Haupt der grauen Frau.
Die aber stand traurig inmitten der farbenfrohen Pracht und starrte aus großen, hohlen Augen auf ihn nieder. – – –
Da setzte mit einem rauschenden Akkorde die Orgel zum Nachspiel ein ... ein freudiges Beben ging durch die Gemeinde ... die Schar der Kinder eilte, sich in die Arme der Ihren zu werfen, – – und aus Elsbeths tränennassen Augen traf ihn ein freundlich grüßender Blick.
8
Paul trat nun in die Wirtschaft.
1 comment