Den Schwur, den er am Morgen seines Einsegnungstages getan hatte, hielt er getreulich. – Er arbeitete wie der letzte seiner Knechte, und wenn die Mutter ihn bat, sich zu schonen, dann küßte er ihr die Hand und sagte: »Du weißt, wir haben viel gutzumachen.«
Abends, wenn das Gesinde zur Ruhe gegangen war und die Zwillinge sich in Schlaf getollt hatten, dann saßen Mutter und Sohn oft stundenlang beisammen und planten und rechneten, aber war ein Entschluß in ihnen zur Reife gekommen und lächelte ein Schimmer von Hoffnung aus ihren Augen, dann geschah es oft, daß sie plötzlich zusammenschraken und mit einem Seufzer die Köpfe hängen ließen – aber keiner sprach es aus, was ihm das Herz belastete ...
Zu dieser Zeit fing Frau Elsbeth stark zu altern an. Lange, schmale Furchen zogen sich über ihre Wangen, das Kinn trat stark hervor, und das Haar erhielt einen Silberschimmer. Nur aus den dunklen Tiefen ihrer vergrämten Augen konnte man noch herauslesen, wie schön sie einst gewesen war.
»Ja, siehst du, jetzt bin ich eine alte Frau,« sagte sie eines Morgens zu ihrem Sohne, als sie sich vor dem Spiegel die Haare kämmte, »und das Glück ist noch immer nicht gekommen.«
»Sei still, Mutter, wofür hin ich denn da?« erwiderte er, obwohl ihm gar nicht so hoffnungsfreudig zumute war.
Da lächelte sie traurig, streichelte ihm Wangen und Stirn und sagte: »Ja, du siehst mir ganz so aus, als hättest du das Glück an den Flügeln gefangen; ... aber ich will nicht so reden,« fuhr sie fort, »was fing' ich wohl an, wenn ich dich nicht hätte?« – – –
Solch ein Augenblick überströmender Liebe mußte für lange vorhalten, denn oft vergingen Monate, ohne daß Mutter und Sohn vor lauter Beklommenheit der Herzen sich etwas Zärtliches zu sagen wagten. –
Die Zwillinge wuchsen derweilen zu zwei tollen, pausbäckigen Wildlingen heran, denen kein Baum zu hoch, kein Graben zu tief war. Das krause Braunhaar hing ihnen in tausend widerspenstigen Ringeln über die Schläfen herab, und darunter hervor guckten zwei Augenpaare, so voll von Schelmerei, so blitzend in Scheu und Keckheit zugleich, als lachten verirrte Sonnenstrahlen aus tiefer Waldesnacht heraus.
Das Gelächter der beiden hallte frühmorgens und spätabends durch das einsame Heidehaus, und um so drückender war die Stille darin, wenn sie in der Schule weilten oder sich draußen auf dem weiten Plane umhertrieben.
Den Zwillingen war alles egal. Ob Sonnenschein, ob Sturm im Hause, sie hatten den Kopf stets voller Streiche, und wenn das Toben des Vaters einmal so arg wurde, daß sie es für geraten hielten, sich hinter dem Ofen zu verkriechen, so entschädigten sie sich dort, indem sie sich heimlich in die Beine kniffen.
Für Paul hegten sie eine grenzenlose Liebe, was sie jedoch nicht abhielt, die besten Bissen von seinem Teller, die weißesten Papierschnitzel aus seiner Mappe und die schönsten Knöpfe von seinen Hosen einfach als ihr Eigentum zu reklamieren, denn sie stahlen wie die Elstern.
Er hatte große Sorge um sie, denn er fürchtete, sie würden immer mehr verwildern, insbesondere, da die Mutter immer müder und mutloser wurde und die Dinge gehen ließ, wie sie gingen. Aber er fing seine Erziehungsversuche am unrechten Ende an. Seine Mahnungen fruchteten nichts, und einmal, als er mitten in einer schönen Strafpredigt war, geschah es, daß die eine plötzlich auf seinen Schoß sprang, ihn an der Nase ergriff und der Schwester zurief: »Du – er kriegt 'nen Bart.«
Drauf kletterte diese ihr nach, und beiden wollten um die Wette an seinen Lippen zupfen. – Als er nun aber ernstlich böse wurde, fingen sie an zu bocken und meinten: »Pfui – wir reden nicht mehr mit dir.«
Elsbeth hatte er seit seinem Einsegnungstage nicht wieder gesehen, wiewohl inzwischen ein ganzes Jahr vergangen war.
Es hieß, sie sei nach der Stadt geschickt worden, um dort »gesellschaftliche Bildung« zu lernen. – Dies Wort hatte ihm einen Stich durchs Herz gegeben, er wußte kaum, was es bedeutete, aber er fühlte dunkel, daß sie sich nun weiter und weiter von ihm entfernte.
Da geschah es eines Tages um die Osterzeit, daß er ein Stück Ackerland bearbeiten ging, das, versprengt von dem anderen Besitztum fernab am Waldesrande lag. – Er selbst säte, und ein Knecht mit zwei Pferden ging nacheggend hintendrein.
Er hatte ein großes weißes Sälaken um die Schultern geschlungen und beobachtete mit stillem Vergnügen, wie die Samenkörner im Sinken gleich einem goldenen Springquell niederfunkelten. Da war es ihm, als sähe er zwischen den dunklen Stämmen des Waldes etwas Hellschimmerndes auf- und niederschaukeln – wie eine Wiege, die in der Luft schwebte. Doch nahm er sich kaum Zeit, darauf zu achten, denn das Säen ist eine Arbeit, die Aufmerken verlangt.
So kam die Frühstückspause heran. Der Knecht setzte sich auf den Kornsack, er selbst aber, da ihm heiß geworden war, ging nach dem Walde, um Schatten zu haben.
Er warf einen flüchtigen Blick nach der schwebenden Wiege und dachte: »Das muß wohl eine Hängematte sein,« aber um den, der darinnen lag, kümmerte er sich nicht.
Da war es ihm plötzlich, als hörte er seinen Namen rufen.
»Paul, Paul!« Es klang ganz lieb und vertraut und mit einer hellen, weichen Stimme, die ihm wohlbekannt schien.
Erschrocken schaute er auf.
»Paul, komm doch her!« rief die Stimme noch einmal. Es lief ihm heiß und kalt über den Rücken herab, denn er wußte nun, wer es war.
Er ließ einen verschämten Blick über seine Arbeitskleider gleiten und machte sich daran, den Knoten des Lakens loszulösen, aber der hatte sich in den Nacken zurückgeschoben, so daß er ihn nicht erreichen konnte.
»Komm doch so, wie du bist,« rief die Stimme, und nun sah er auch, wie ihr Oberkörper sich in der Matte emporrichtete, während ein Buch mit rot und goldenem Einband ihren Händen entglitt und zur Erde fiel.
Zögernd kam er näher, indem er heimlich versuchte, die Stiefel, an denen der Schmutz des feuchten Ackers klebte, in dem Moose abzuwischen.
Sie ihrerseits hatte noch im letzten Augenblicke bemerkt, daß ihre Füße mitsamt den weißen Strümpfen unter dem Kleide hervorguckten, und machte sich eilig daran, sie mit dem Tuche, das sie um die Schultern geschlungen hatte, zu verdecken. Aber sie vermochte nicht, es unter ihren Armen hervorzuzerren, und da sie keinen anderen Rat wußte, so kauerte sie sich schnell zusammen, so daß sie dasaß wie ein brütendes Hühnchen, während die Hängematte heftig hin und her schwankte.
Vielleicht hatte sie die Absicht gehabt, ihm durch ihre Sicherheit und ihre frisch erlernte gesellschaftliche Bildung ein wenig zu imponieren, aber das Schicksal fügte es nun, daß sie ihn nicht minder rot und verlegen anstarren mußte als er sie.
Er seinerseits bemerkte nichts von ihrer Gemütsverfassung, er fand nur, daß sie sehr schön geworden war, daß ihr Haar sich zu einem vornehmen Knoten schürzte und daß ihre Busenschleife auf einer wogenden Rundung leise zitterte. Letzteres machte ihm vollends klar, daß sie inzwischen eine Dame geworden war.
Es verging eine ganze Weile, ehe eines von beiden ein Wort hervorbrachte.
»Guten Tag – du,« sagte sie dann mit einem leisen Auflachen und streckte ihm ihre Rechte entgegen, denn sie merkte, daß sie die Oberhand hatte.
Er schwieg und lächelte sie an.
»Hilf mir ein bißchen mein Tuch hervorziehen,« fuhr sie fort.
Er tat es. – »So, nun kehr dich um.« Auch damit war er einverstanden. »Nun ist's gut.« Sie hatte sich wieder hingelegt, das Tuch rasch über die Füße geworfen und guckte nun zwischen den Maschen der Hängematte hindurch schelmisch zu ihm empor.
»Es ist wirklich 'ne Freude, daß ich wieder bei dir bin,« sagte sie, »du bist doch der Beste von allen. Hast du dich auch nach mir gebangt?«
»Nein,« erwiderte er wahrheitsgetreu.
»Ach geh – du,« erwiderte sie und versuchte, sich schmollend nach der anderen Seite zu drehen, aber da die Hängematte wieder in ein heftiges Schwanken geriet, so blieb sie liegen und lachte.
Er wunderte sich innerlich, daß sie so lustig war. Er hatte außer den Zwillingen noch niemanden so lachen gesehen. Und das waren Kinder.
Aber dieses Lachen gab ihm die Unbefangenheit wieder, denn er fühlte instinktiv, um wieviel älter er inzwischen geworden war als sie.
»Es ist dir wohl sehr gut gegangen – die ganze Zeit über?« fragte er.
»Gott sei Dank – ja,« erwiderte sie. »Mama kränkelt ein bißchen, aber das ist auch alles.« – Ein Schatten flog über ihr Angesicht, war aber im nächsten Augenblick wieder verschwunden, und dann fuhr sie plaudernd fort: »Ich bin in der Stadt gewesen – ach, du – was ich da alles durchgemacht hab' – das muß ich dir bei Gelegenheit einmal erzählen. Tanzstunden hab' ich genommen. Auch Verehrer hab' ich gehabt – du kannst mir's glauben. Fensterpromenaden haben sie mir gemacht, anonyme Blumensträuße haben sie mir geschickt, auch Verse, selbstgemachte Verse. Ein Student war darunter, mit einem weißen Schnurrock und einer grün-weiß-roten Mütze – o, der verstand's! Was der einem nicht alles zu sagen wußte – hinterher hat er sich mit der Betty Schirrmacher verlobt, einer Freundin von mir, das heißt ganz heimlich, außer mir weiß es keiner.«
Paul atmete erleichert auf, denn der Student hatte schon begonnen, ihm den Kopf warm zu machen.
»Und hast du dich nicht geärgert?« fragte er.
»Weshalb?«
»Daß er dir untreu wurde.«
»Nein, darüber sind wir erhaben,« erwiderte sie und zuckte die Achseln. »O, du – das sind ja alles grüne Jungen im Vergleich mit dir!« Ein heißer Schreck überlief ihn bei dem Gedanken, daß man einen Studenten einen grünen Jungen nennen konnte und noch dazu mit ihm selber verglichen.
»Mein Bruder ist kein grüner Junge,« erwiderte er.
»Ich kenne deinen Bruder nicht,« meinte sie mit philosophischer Ruhe, »der mag vielleicht keiner sein.
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