Dann sahen sie Mathieu und blieben erstarrt. Und er eilte davon, höchst peinlich berührt, daß er dieses Geheimnis entdeckt hatte.
2
Morange, der erste Buchhalter, war ein Mann von achtunddreißig Jahren kahlköpfig, schon etwas angegraut, mit einem sehr schönen, fächerförmigen Vollbart, auf den er stolz war. Seine runden, hellen Augen, seine gerade Nase, sein hübschgeformter, ein wenig großer Mund hatten ihm in jüngeren Jahren den Ruf eines schönen Mannes verschafft; und er verwendete viel Sorgfalt auf sich, trug stets Zylinder und war sehr darauf bedacht, in seiner Erscheinung die Korrektheit des höhergestellten und gewissenhaften Bureaumannes zu zeigen.
»Sie kennen unsre neue Wohnung noch nicht,« sagte er zu Mathieu, als sie miteinander die Fabrik verließen. »Sie werden sehen, wie schön sie ist. Ein Schlafzimmer für uns, eines für Reine. Und zehn Schritte von der Fabrik entfernt; ich bin in vier Minuten zu Hause, nach der Uhr konstatiert.«
Er war der Sohn eines kleinen Handelsangestellten, welcher nach vierzig Jahren engen Bureaulebens auf seinem Schreibtischsessel gestorben war. Und er hatte die Tochter ebenfalls eines Angestellten geheiratet, Valérie Duchemin, deren Vater die Ungeschicklichkeit begangen hatte, vier Töchter zu haben, was den Haushalt zu einer wahren Hölle gemacht hatte, mit allen unvermeidlichen Drangsalen, allen demütigenden Entbehrungen der Armut. Die älteste, Valérie, schön und ehrgeizig, die das Glück gehabt hatte, ohne Mitgift diesen hübschen Mann zu bekommen, welcher obendrein brav und arbeitsam war, hatte seither stets davon geträumt, eine soziale Stufe höher zu steigen, dieser Welt der kleinen Angestellten, die ihr verhaßt war, zu entrinnen, indem sie ihren Sohn zum Arzt oder Advokaten machte. Unglücklicherweise war aber das so sehnsüchtig erwartete Kind ein Mädchen, und sie wurde von Angst erfaßt, sie sah sich, wenn sie so fortfuhr, mit vier Töchtern auf dem Halse, wie ihre Mutter. Da änderte sie das Ziel ihrer Träume, beschloß, sich unbedingt auf dies eine Kind, auf ihre kleine Reine zu beschränken, ihren Mann zu den höchstbezahlten Posten vorwärtszubringen, um ihr eine große Mitgift geben und endlich in jene höhere Sphäre aufsteigen zu können, nach welcher sie ein verzehrendes Verlangen trug. Er, eine schwache und zärtliche Natur, der sie vergötterte, machte sich bald ihren Ehrgeiz zu eigen, dachte unaufhörlich daran, rasch zu steigen, und war voll von stolzen und weitschauenden Projekten. Er befand sich nun seit acht Jahren in der Beauchêneschen Fabrik, sein Gehalt betrug nicht mehr als fünftausend Franken, und das Ehepaar war im höchsten Grade ungeduldig und unzufrieden, denn in dieser Weise würde der Mann nie sein Glück machen.
»Sehen Sie,« sagte Morange, als sie etwa zweihundert Meter weit den Boulevard de Grenelle hinabgeschritten waren, »das neue Haus dort an der Ecke ist es. Sieht es nicht vornehm aus?«
Mathieu sah eines jener hohen modernen Gebäude, geziert mit Balkonen und Skulpturen, welches grell gegen die armseligen, kleinen Häuser der Umgebung abstach.
»Das ist ja ein wahres Palais!« rief er, um Morange Freude zu machen, der sich in die Brust warf.
»Sie sollen nur erst die Treppe sehen. Wissen Sie, es ist im fünften Stock. Aber auf einer solchen Treppe steigt man so angenehm, daß man oben ist, ehe man es merkt.«
Er ließ seinen Gast in das Vestibül wie in einen Tempel eintreten. Die Stuckmauern glänzten, die Stufen waren mit einem Teppich belegt, die Fenster bestanden aus bunten Glasscheiben. Im fünften Stock angelangt, öffnete er die Tür mit seinem Schlüssel, immerfort strahlenden Gesichtes wiederholend: »Sie werden sehen, Sie werden sehen!« Madame Valérie und Reine mußten nach ihnen gespäht haben, und sie eilten sogleich herbei. Valérie, jetzt zweiunddreißig Jahre alt, sah reizend und noch sehr jung aus: eine liebenswürdige Brünette, mit rundem und lächelndem Gesicht, welches von schönem Haar eingefaßt war, die Brust schon etwas zu stark, aber mit prachtvollen Schultern, auf welche Morange stolz war, wenn sie sich dekolletierte. Reine, zwölf Jahre alt, war das frappante Ebenbild ihrer Mutter, mit demselben lächelnden, vielleicht ein wenig länglicheren Gesichte, unter demselben schwarzen Haar.
»Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie unsrer Einladung gefolgt sind!« sagte Valérie lebhaft, indem sie Mathieu beide Hände schüttelte. »Und wie schade, daß Madame Froment nicht mit Ihnen kommen konnte! Reine, nimm dem Herrn doch den Hut ab.«
Dann sogleich:
»Sie sehen, wir haben ein sehr helles Vorzimmer. Wollen Sie vielleicht, während die Eier ins Wasser gelegt werden, die Wohnung besichtigen? Sie haben es dann hinter sich, und Sie werden wenigstens wissen, wo Sie essen.«
Das alles war in so liebenswürdigem Tone gesagt, und Morange selbst lachte mit so viel gutmütiger Befriedigung, daß Mathieu sich gern zu dieser unschuldigen Schaustellung der Eitelkeit hergab. Sie betraten zuerst den Salon, welcher die Ecke des Hauses bildete, mit perlgrauer, goldgeblümter Tapete bekleidet und mit nach dem Dutzend erzeugten, weißlackierten Möbeln im Stile Ludwigs XIV. ausgestattet, in welche das Piano aus Palisander einen dicken schwarzen Fleck brachte. Sodann, nach dem Boulevard de Grenelle zu, das Zimmer Reines, blaßblau tapeziert, mit einem vollständigen Mädchenmeublement in PitchpineImitation.
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