»Wie?« sprach sie, »die Trauer um meine Mutter ablegen, ehe die Zeit verflossen ist, während welcher die Sitte mir erlaubt, dieses Zeichen meines Schmerzes zu tragen? Nein, gnädige Tante! Das befehlen Sie mir nicht,« setzte sie mit fester Stimme hinzu, obgleich dabei zwei große Thränen, die schon lange in ihren dunkeln Augen geschimmert hatten, über ihre jetzt hochroth erglühenden Wangen herab rollten. »Nur zwei Monate sind es, seit meine Mutter begraben ward; wie könnte ich ihr Andenken nur Eine Stunde verleugnen! Ich kann es nicht, ich werde es nicht, ich will es nicht,« sprach sie höchst entschieden, und hob dabei, dennoch wie flehend, ihre kleinen zarten Händchen empor. Die Gräfin und Aurelia schwiegen eine Weile vor Erstaunen über Gabrielens plötzlichen Muth, ehe sie begonnen auf das arme Mädchen heftig einzustürmen. Gabriele mußte verstummen, ängstlich blickte sie, wie Beistand suchend, um sich her, und erschrak dennoch nicht wenig, als ihr dieser höchst unerwarteter Weise zu Theil ward.
Aus dem dunkelsten Winkel des Zimmers, dicht neben dem Rahmen, erscholl mitten durch den Streit eine männliche Stimme: »Ich vereinige meine Bitte mit der des jungen Fräuleins; mir dünkt wahrlich, sie hat nicht ganz Unrecht.« »Ottokar!« rief Aurelia; »willkommen, so viel früher als wir es erwarteten,« die Gräfin. Aller Zwiespalt ward augenblicklich beseitigt, und die ganze Gesellschaft drängte sich freudig um den unbemerkt Hereingetretenen her. Gabriele taumelte fast in freudiger Ueberraschung, sie schlug die Augen nicht auf, sie wagte keinen Blick auf ihren Fürsprecher, aber sie wußte dennoch, wer er sey.
Jedermann beeiferte sich nun um die Wette, Eugeniens unverantwortliches Benehmen mit allen seinen entsetzlichen Folgen dem eben Angekommenen auf das weitläuftigste auseinanderzusetzen. Er hörte alle gelassen an und schlug dann an der Stelle der Dienerin einen Edelknaben vor, deren er am folgenden Tage wenigstens ein Dutzend zur Auswahl in aller Frühe zu stellen versprach. Dieser Ausweg war niemanden von der Gesellschaft eingefallen, und die Idee ward mit dem allgemeinsten Beifall ergriffen.
Kleopatra verließ beruhigt ihren Königssitz, den ein herabrollender seidner Vorhang verhüllte, Römer und Aegypter begaben sich in die Nebenzimmer, um als moderne Herren und Damen wiederzukehren, die Lichter im Saal wurden angezündet, der Theetisch hereingebracht, und alles ordnete sich in friedlicher Eintracht um ihn her.
Die Gesellschaft bestand größtentheils aus dem engen Ausschusse der Bekannten der Gräfin, aus sogenannten Hausfreunden, die sich an freien Abenden gewöhnlich bei ihr versammelten; das Gespräch wogte rasch und lebendig, nur Gabriele blieb stumm. Niemand achtete sonderlich auf sie, denn ihr erstes auffallendes Erscheinen war über Ottokars unerwarteten Eintritt gänzlich vergessen. Desto mehr Zeit gewann sie, fürs erste Athem zu schöpfen, und dann die neue Welt, in die sie versetzt war, zu betrachten. Zum erstenmal in ihrem Leben befand sie sich unter so vielen, ihr gänzlich fremden Gestalten, und das Gefühl, daß auch sie ihnen fremd sey und es wohl lange noch bleiben würde, machte ihr Herz beklommen. Der Anblick der Gräfin versetzte sie in immer neues Erstaunen, sie erschien ihr um zwanzig Jahre jünger als sie vor wenig Tagen zum erstenmal im Schloß ihres Vaters sie gesehen hatte, dessen Schwester sie war. Dem mit allen Toilettenkünsten unbekannten Kinde kam diese Verwandlung ganz unbegreiflich vor, ja sie hätte geglaubt, daß es gar nicht die Tante sey, wäre Aurelia nicht zugegen gewesen und hätte sie nicht Mutter genannt. Aurelien betrachtete sie mit dem heißen Wunsch, sogar mit dem Entschlusse, solche zu lieben; dennoch fühlte sie innerlich, daß ihr dieß nie gelingen würde. Der scharfe Blick der großen dunkelblauen Augen, das spöttische Lächeln, welches bei jedem Anlaß um die Rosenlippen der schönen Aurelia spielte, vernichtete jede Möglichkeit herzlichen Vertrauens zu ihr.
Endlich wagte es auch Gabriele, den Blick zu Ottokarn zu erheben. Sie konnte es unbemerkt; er stand hinter Aureliens Stuhl im eifrigen Gespräche mit dieser. Seine hohe schlanke Gestalt, die Anmuth seiner Bewegungen waren von Gabrielen schon früher als heute bemerkt worden. Sie erkannte ihn jetzt daran; auch die edlen Züge seines Gesichts waren ihr nicht fremd, sie erschienen ihr wie die eines längst Bekannten, obgleich sie sie noch nie deutlich erblickt hatte. Eine Fülle hellbrauner Locken kräuselte sich um seine hochgewölbte Stirn, die blauen, muthig und kühn um sich her blitzenden Augen hatten bei allem Feuer etwas unbeschreiblich mildes und freundliches, und die dünnen Lippen des festgeschloßnen Mundes gaben seinem Gesicht einen sehr ernsten, fast wehmüthigen Ausdruck, der aber beim Sprechen in ein höchst anmuthiges Lächeln verschwebte. Sein ganzes Wesen trug das Gepräge kräftiger, zum Manne herangereifter Jugendblüthe. Er schien etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt.
Es that Gabrielen heimlich weh, daß er sie so gar nicht bemerkte, obgleich sie sich auch freute, ihn ungestört ansehen zu können. Da stimmte er das einseitige Gespräch zum Allgemeinen um, und sie konnte nun mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf jedes seiner Worte horchen. Er erzählte von seiner eben beendigten Reise, und seine lebendige Darstellung wußte auch dem Allergewöhnlichsten Leben und Interesse zu geben. Dabei entgieng es Gabrielen nicht, daß er dem Gespräch absichtlich diese Wendung gab, um nur die ewigen Spötteleien über die abwesende Eugenia zu beenden, und ihr Gefühl wußte es ihm heimlich Dank. Es lag ein eigener, aller Herzen sich bemächtigender Zauber in dem vollen, reinen Klange seiner Stimme. Gabriele horchte so lange auf diesen Ton, daß sie zuletzt nur ihn hörte, wie man einer lieblichen Musik sich hingiebt, ohne dabei die Worte des Gesanges zu beachten. Alles andere um sich her vergessend, saß sie da, als ganz unerwartet ein ältlicher Mann, ihr Nachbar am Tische, sie durch eine gleichgültige Frage auf eine unangenehme Weise aus dieser süßen Selbstverlorenheit riß. Erschrocken darüber, fuhr sie zusammen, zerbrach beinah ihre Tasse und stammelte endlich hocherröthend eine Antwort, die niemand verstehen konnte. Die Augen der ganzen Gesellschaft wandten sich plötzlich ihr zu, und die Verlegenheit des armen Mädchens war entsetzlich, sie stieg bis zur qualvollsten Pein, als Aurelia nach ihrer schonungslosen Art laut ausrief: »Ich glaube die Kleine war eingeschlafen; kein Wunder, sie ist müde von der Reise!« und indem sie aufstehend ihre Hand ergriff, hinzusetzte: »Komm, Liebchen, ich bringe dich zu deiner Bonne, die wohl auch mit Schmerzen auf dich harrt, die Abschiedsknixe kannst du übrigens sparen;« und damit zog sie das tiefgekränkte Mädchen zur Thüre.
Beinahe weinend vor Schaam und Zorn über Aureliens unfreundliches Benehmen und ihre eigne Ungeschicklichkeit, langte Gabriele bei der guten Frau Dalling an, der Pflegerin ihrer Kindheit, und vermochte es kaum über sich, ihr die Begebenheiten dieses Abends nur ganz im Allgemeinen kund zu thun. Alles schwamm in bunter Verworrenheit vor ihrem betäubten Sinn; nur Ottokars Gestalt, seine Stimme, seine Worte waren ihr deutlich in der Erinnerung geblieben.
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