Eines Morgens erwartete Auguste vergebens ihren Freund bei ihren musikalischen Uebungen; bei Tafel vermißte sie sein Couvert; er war spurlos verschwunden, und ihre erbleichende, zitternde Lippe vermochte nicht, eine Frage nach ihm auszusprechen. Unter dem Vorwand eines geheimen Auftrags von der äußersten Wichtigkeit war er in der Nacht weit weg versendet worden, am Orte seiner Bestimmung hatte man schon dafür gesorgt, daß er in noch entferntere Länder geschickt wurde, und so war er auf ewig von Augusten geschieden, ohne eine Ahnung davon zu empfinden. Die Argusaugen seines Gebieters bewachten ihn zu sorgfältig in jener verhängnißvollen Nacht, als daß er nur ein Wort des Abschieds an Augusten hätte gelangen lassen können, überdem glaubte er auch, nur auf wenige Wochen sich von ihr zu trennen. Späterhin ward es ihm ganz unmöglich gemacht, einen Brief auf sicherm Wege in ihre Hände zu bringen. Beide hatten keine Vertrauten, ihre reine jugendliche Liebe bedurfte deren nicht, sie scheute jede Berührung der Außenwelt; wie hätten sie Fremden ein Geheimniß gestehen können, das sie gegen einander selbst kaum in Worten auszusprechen versucht hatten.
Ganz auf sich zurückgeworfen, blieb nun Auguste in der glänzendsten Gesellschaft einsam, wie in einer Wüste. Kein Laut des einzigen Wesens in der Welt, zu dem sie allein zu gehören sich bewußt war, tönte zu ihr herüber, nie hörte sie mehr den geliebten Namen nennen, als wenn sie selbst in stiller Mitternacht, unter heißen, langverhaltnen Thränen, ihn den stummen Wänden ihres einsamen Zimmers zurief. Ihr Vater wußte in aller Freundlichkeit so abschreckend-schroff vor ihr zu stehen, daß das bange Mädchen es kaum wagen mochte, in seiner Gegenwart nur an den Geliebten zu denken. Er sah wohl ihre stille Trauer, aber er fragte nie nach der Ursache derselben und hoffte alles von der Zeit.
Dem Anschein nach verfehlte diese auch nicht, ihre gewohnte Macht zu bewähren. Auguste fand allmälig eine wehmüthige Freude im Schmerz um das verlorne Glück, in der unaussprechlichen Sehnsucht, die jetzt einzig in ihrem Busen lebte, und auch ihr Aeußres wurde von diesem Gefühl verklärt. Sie gewöhnte sich daran, ihren Freund unter den Todten zu denken. Ihr Vater, der es bemerkte, suchte schweigend sie in diesem Glauben zu bestärken, und nun wandte sie ihren Blick einzig nach oben, der Heimath ihres Lebens und ihrer Liebe. Hier unten ging sie willig den ihr von ihrem Vater vorgezeichneten Pfad, lächelte freundlich zu allen seinen Wünschen, und suchte wenigstens ihn zu erfreuen, da für sie auf der Erde keine Freude mehr blühte.
So verlebte Auguste noch drei Jahre in verschiednen Ländern und äußern Umständen, ohne eine befreundete Seele um sich zu wissen. Selbst des Mädchenglücks, eine gewöhnliche Jugendfreundin zu besitzen, hatte sie zeitlebens entbehrt. Sie war selten viel länger als ein Jahr an dem nehmlichen Orte geblieben, hatte unzähligemal alle ihre Umgebungen wechseln müssen, und nie Zeit oder Gelegenheit gefunden, irgend eine dauernde Verbindung zu knüpfen. Die letzte Stadt, in welcher sie mit ihrem Vater längere Zeit verweilte, war Stockholm. Auf einer Reise von dort aus erkrankte er plötzlich in einem kleinen schwedischen Städtchen und starb.
Nie war eine Waise verlaßner, als die jetzt zwanzigjährige Auguste am Grabe ihres Vaters. Sie harrte dort, bis der ihr in den letzten Augenblicken vom Verstorbnen bestimmte Vormund sie nach Deutschland abzuholen kam. Der Nachlaß ihres Vaters war sehr gering, eignes Vermögen hatte er nie besessen und dabei in der Welt zu glänzend Haus gehalten, um beträchtliche Summen für seine Tochter zurücklegen zu können; ihr blieb kaum genug, um davon nothdürftig zu leben. Willenlos, wie sie von jeher war, folgte sie jetzt ohne Widerrede dem Rath ihres Vormunds, und ließ sich von ihm zu der einzigen Verwandtin führen, die sie ihres Wissens noch in der Welt hatte, und die allein ihrer Jugend einen anständigen Zufluchtsort bieten konnte.
Unter Entsagungen aller Art, unter steten Uebungen unbeschreiblicher Geduld, schwanden von nun an Augustens Tage auf dem einsamen Landgute ihrer Tante, einer nach dem andern, einer wie der andre. So lebte sie mehrere Jahre lang. Erinnerungen der glänzenden Vergangenheit machten ihr die düstre Gegenwart nicht noch trüber, denn sie hatte keine Freude an deren flüchtigem Schimmer gefunden; aber das verklärte Bild des verlornen Geliebten wohnte noch immer tief verborgen in ihrem Herzen, von ewigem Jugendglanz umflossen, wie das Bild eines Heiligen in einem dunkeln Grabmal, das eine nie erlöschende Lampe erleuchtet.
Uebrigens war Auguste weder fröhlich noch traurig, nur freundlich und still. Die Wenigen, welche sie kannten, ahneten nicht die ganze Freudenlosigkeit ihres Daseyns, aber alle bewunderten ihre Anmuth, ihr anspruchloses Wesen, und priesen die unerschöpfliche Langmuth und engelgleiche Gelassenheit, mit denen sie den wunderlichsten, unerträglichsten Launen ihrer Tante gefällig entgegen kam.
Letztere war eine jener scheinheiligen alten Betschwestern, die unter dem Mantel der Frömmelei die abschreckendsten Eigenschaften zu verdecken suchen, und mit dem glattesten, herzlosesten Egoism die ganze Welt nur einzig zu ihrer Bequemlichkeit erschaffen glauben. In der schriftlich an sie gerichteten Bewerbung des Baron Aarheim um Augustens Hand, sah sie nur den Finger Gottes, der sie von einer ihr lästigen Hausgenossin befreien wollte, und verkündete daher schonungslos ihrer Nichte das ihr unverdienter Weise zugefallne große Glück; dabei ermangelte sie nicht, dieses einzig ihrem eifrigen Gebet für Augustens Wohlfahrt zuzuschreiben. Dieser ihr Leben war jetzt mehr als je ganz nach Innen gekehrt, die Außenwelt kümmerte sie wenig, weniger noch ihr eignes Schicksal; an Glück auf der Erde zu glauben hatte sie längst verlernt, und all ihr Hoffen ging weit über dieses Prüfungsleben hinaus. Daher fügte sie sich ohne Widerstreben dem deutlich ausgesprochnen Willen der Tante, wie sie sich früher dem ihres Vaters gefügt hatte. Mit ruhiger Fassung reichte sie dem Baron die Hand, als er sie heimzuführen kam. Sie war es sich bei diesem Schritte deutlich bewußt, daß sie nur ein unerfreuliches Daseyn mit einem ähnlichen, vielleicht noch unerfreulicherem vertauschte, aber sie folgte willenlos dem Winke des Schicksals.
Fest entschlossen, durch Treue, Sorgfalt und jede Aufopferung, dem Manne, der sie gewählt hatte, alles zu werden, was sie ihm zu werden vermochte, und bei allen ihren Handlungen einzig sein Glück zu bezwecken, betrat sie die dunkle Schwelle vom Schloß Aarheim. Und doch fühlte sich Auguste unendlich glücklicher wie sie es je zu träumen gewagt hatte, als sie nach Jahresfrist Gabrielens Mutter ward. Nun hatte sie ein lebendes Wesen, das sie umfassen und beglücken konnte, mit all der bis jetzt tiefverborgnen Liebe, die der Grundton ihres Daseyns war. Sie lebte nun nicht mehr ohne Plan und Zweck in dieser Welt, sie wußte jetzt, für wen sie lebte, und trug nicht mehr bloß ergeben sondern freudig alle andere Zumuthungen des ihr im übrigen noch immer nicht freundlicher gewordnen Geschicks.
Gabriele ward beim Eintritt in das Leben vom Vater nicht freundlich willkommen geheißen.
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