Musik und bildende Kunst blieben auch in den trübsten Tagen Augustens freundliche Tröster; jetzt übte sie sie mit Gabrielen und fühlte die reinste entzückendste Freude bei deren Fortschritten in beiden. Sie lehrte sie, die unsterblichen Lieder der Dichter durch den Wohllaut der Stimme zu beleben. Uebung jeder schönen Kunst machte aus jedem Tage ihres stillen Beisammenseyns ein Fest. Gabriele lernte sogar, von der Mutter geleitet, sich durch Blumenkränze mit gemeßnem Schritte winden, oder mit einem Shawl die reizendsten Stellungen der Antike nachbilden. Auguste sah oft mit wonneglänzendem Auge die kleine Grazie, das Tamburin schwingend, im leichten, südlichen Tanze auf und niederschweben; sie gedachte dabei der trüben Tage ihrer eignen Jugend, in denen sie lächelnd, wenn gleich mit halb gebrochnem Herzen, sich auf Befehl ihres Vaters vor schimmernden Versammlungen so zeigen mußte, und pries dankbar das Geschick ihres glücklichen Kindes und seine ungetrübte Freude an der heitern Kunst.

Stunden ernstern Unterrichts wechselten mit diesen, dem Schmuck des Lebens geweihten. Auguste selbst hatte eine zu sorgfältige Erziehung genossen, als daß sie nicht ihrer Tochter eine sehr vorzügliche Lehrerin hätte werden können. Sie las mit ihr aufmerksam und nöthigen Falls erläuternd, das Beste, was in unsrer und in fremden Sprachen für den Unterricht der Jugend geschrieben ward; sie führte sie früh in die Geschichte der Völker ein, aber sie öffnete ihr auch früh das Wunderreich der Poesie; Gabrielens leicht bewegliche Fantasie versank in seinem Zauber, und das rege Mutterherz mit ihr.

So geschah es denn, daß Gabrielens liebliche Erscheinung allen Reiz kindlich unbefangener Unschuld mit Kenntnissen und Talenten vereinte, welche sonst nur durch die liberalste Erziehung reicher Eltern in großen Städten erworben werden können. In ihrer tiefen Einsamkeit kam ihr keine Ahnung von dem, was sie eigentlich war; alle Mädchen ihres Alters und Standes dachte sie sich weit unterrichteter, kunstreicher, liebenswürdiger als sich selbst, denn sie hatte noch nie eines gesehen, und fremdes Lob noch nie ihr Ohr berührt. Selbst ihr Vater hatte keine Ahnung von dem, was sie wußte und war; er sah sie nur bei Tische, wo Frau und Tochter in bangem Schweigen vor ihm erstarrten, und er selbst nur den Mund öffnete, um nach Vollziehung früherer Befehle zu fragen, oder neue zu ertheilen. Gabrielen fiel übrigens der Zwang, welchen seine Gegenwart ihr und der Mutter auflegte, nicht im geringsten auf. Von Jugend an dessen gewohnt, glaubte sie, es sey in allen Familien so, könne und dürfe nicht anders seyn, und Auguste hütete sich, sie in diesem Glauben irre zu machen.

Nie hätte das Band gelöst werden sollen, das Mutter und Tochter so beglückend vereinte, ihre Herzen hätten immer zusammen, in gleicher Bewegung schlagen müssen, bis von Einem Grabe beide in einer Stunde aufgenommen worden wären. Aber im Buche dort oben war es anders geschrieben. Auguste erkrankte plötzlich und starb. Wenige Tage nur hatte das verzehrende Fieber in ihrem Innern gewüthet, der Schmerz des Todes war schonend an ihr vorüber gegangen; aber die Krankheit zerstörte gleich anfangs ihr Bewußtseyn, sie entschlief ohne auch nur einigermaaßen für Gabrielens künftige Verhältnisse sorgen zu können. Das Bild dieser Tochter am Grabe dieser Mutter verdecke ein undurchdringlicher Schleier; wer könnte es unternehmen, solch einen Schmerz beschreiben zu wollen!

Baron Aarheim erstarrte vor Schrecken über das so plötzlich über ihn hereingebrochene Unheil. Geliebt hatte er Augusten nicht, denn sein versteinertes Gemüth konnte nicht lieben; ihren vollen Werth hatte er nie klar erkannt, nur dumpf empfunden; aber schmerzlich fühlte er die durch ihren Tod entstandne Unbequemlichkeit, für sein Haus und sein Kind selbsteigen sorgen zu müssen. Sobald er nur einigermaaßen wieder zur Besinnung kam, war er ernstlich darauf bedacht, sich dieser Sorgen zu entledigen, um nur wieder ungestört seinen alchymistischen Arbeiten leben zu können, von denen er sich hoffnungsreicher als je, den glänzendsten Erfolg ganz nahe versprach. Zum erstenmale würdigte er seine Tochter eines ernstlichen Bemerkens; ihre jugendliche Anmuth gefiel ihm. Von der seltnen Ausbildung ihres Geistes und ihrer Talente wußte und ahnete er fortwährend nichts, sie blieben ihm verhüllt, denn früherer Gewöhnung eingedenk, wagte es das traurige, schüchterne Mädchen kaum, in seiner Ehrfurcht gebietenden Nähe zu athmen.

Des Barons eifrigstes Bestreben ging jetzt dahin, Gabrielen irgendwo unterzubringen, wo sie alles lernen sollte, was ihr seiner Meinung nach noch fehlte. Seine Schwester, die Gräfin Rosenberg, schien ihm bei reiflichem Nachsinnen die Einzige, an die er sich in dieser Angelegenheit wenden konnte. Sie war mehrere Jahre jünger als er, frühe verwitwet, und lebte mit ihrer einzigen Tochter mitten im Geräusch einer drei Tagereisen vom Schloß Aarheim entfernten großen Stadt, in welcher sie eines der glänzendsten Häuser bildete. Hier sollte Gabriele für den ausgezeichneten Platz gebildet werden, auf dem sie, wie der Vater fest glaubte, in der Welt zu glänzen bestimmt war. Seit mehr als zwanzig Jahren ergriff der Freiherr zum erstenmal wieder die Feder, um seiner Schwester zu schreiben. Er machte sie mit seinem Verluste bekannt, stellte ihr die Verlegenheit vor, in der er sich wegen der Erziehung seiner einzigen Tochter befand, und wandte alles an, um sie zu einem Besuch auf seinem einsamen Schlosse zu bewegen.

Aurelien war diese Einladung höchst unwillkommen, ihre Mutter hingegen ergriff sie mit einer Art von Begeisterung, die ihr sogar den Muth gab, dem Willen ihrer Tochter für dieses Mal gerade entgegen zu handeln. Eine Wallfahrt zum Stammhause ihrer Vorfahren, welches die Gräfin noch nie besucht hatte, schien ihr so romantisch, sie dachte sich die dunkeln, hohen Gemächer, die gemalten Fensterscheiben, die langen Gallerieen voll alter Bilder ihrer Ahnen so interessant, sie freute sich so sehr auf den neuen Stoff zur geselligen Unterhaltung, daß sie, ungeachtet aller Einwendungen Aureliens, die Reise so viel möglich beschleunigte, und mehrere Tage früher im Schloß Aarheim eintraf als der Baron es erwarten konnte.

Doch kaum hatte sie einige Stunden dort verlebt, so sehnte sie sich schon wieder recht herzlich in ihre gewohnten Umgebungen zurück. Alles, was sie sah, machte auf sie einen weit andern Eindruck, als sie erwartet hatte. Die todte Stille in dem großen öden Gebäude ängstigte sie, die dunkeln winkligen Gänge und Säle, die viele Ellen-dicken Mauern schienen sie erdrücken zu wollen, vor allen aber erregte ihr der Anblick ihres Bruders ein nie gefühltes unüberwindliches, Grausen. Als einen großen stattlichen Mann hatte sie ihn zum letztenmal erblickt, nach einer langen Reihe von Jahren sah sie ihn jetzt, wieder zum hinfälligen, hagern Greise gealtert, und suchte vergebens in seinen von mannigfachen Leidenschaften durchwühlten Zügen, in seinen tiefliegenden, dunkel glühenden Augen nach einer Spur von dem, was er in frühern Tagen gewesen war. Seine ganze Erscheinung blieb ihr nur eine stete ernste Erinnerung an die mächtige Gewalt der Zeit, die sie so gern für immer vergessen hätte, er stand vor ihr wie ein Gespenst, das aus einem schönen Traum sie erweckt, und seine Gegenwart war ihr um so entsetzlicher, je mehr sie zu verbergen strebte, was sie dabei empfand.

Auf Aurelien, die, vier Jahre älter als Gabriele, in der höchsten Pracht völlig erblühter Schönheit strahlte, machte der Baron freilich nicht den Eindruck als auf ihre Mutter, dafür aber fühlte sie sich beim ersten Schritt in das Schloß von der gräßlichsten Langenweile ergriffen. Besonders aber war sie ärgerlich über die kleine blasse Kusine, der unschuldigen Veranlassung dieser ihr widerwärtigen Reise.