Um diesem Zorn Luft zu machen, auch wohl, um sich doch auf irgend eine Weise zu amüsiren, verfolgte sie die arme Gabriele mit tausend lustigen Einfällen über das, was sie altmodisch-empfindsames Wesen nannte, und spottete ganz ohne Erbarmen, wenn das arme verschüchterte Kind dadurch in Verlegenheit gerieth, und sich irgend eine kleine Unbehülflichkeit zu Schulden kommen ließ. In bessern Stunden kramte sie vor ihr alle die Künste aus, um derentwillen man sie in der Stadt unter dem Namen einer zweiten Korinna zu vergöttern pflegte. Gabrielens sprachloses Staunen dabei schien ihr ein großer Triumph, ihr ahnete nicht, daß diese nur zu begreifen suchte, wie man von solchen Künsten so viel Wesens machen könne, die sie selbst nur gewohnt war als Erholung von ernstern Beschäftigungen zu üben. Noch weniger fiel es ihr ein, daß die unbedeutende Kleine in Manchem wohl nicht ohne Erfolg mit ihr zu wetteifern fähig wäre, denn Gabriele war zu furchtsam, und auch zu bescheiden gewöhnt, um auf die entfernteste Weise etwas davon zu äußern.
Es bedurfte nicht Aureliens ungestümes Treiben, um die Gräfin zur möglichsten Abkürzung eines Aufenthalts zu bewegen, der ihren Erwartungen so gar nicht entsprach, besonders da der Baron weit entfernt war, auf dessen Verlängerung zu bestehen. Die Gräfin versprach ihrem Bruder in allgemeinen Ausdrücken, Gabrielen bis zum Frühlinge zu sich zu nehmen, ihr den nämlichen Unterricht zu verschaffen, den die glänzende Aurelia gehabt hatte, und sie in die Welt einzuführen. Dieß genügte ihm. Sie selbst hatte Gabrielen kaum des Bemerkens würdig geachtet. Von ihrer sehr kleinen Gestalt, und ihrem ganzen Ansehen getäuscht, hielt sie sie für ein kaum vierzehnjähriges Kind, und dieß mußte ein jeder, der solche zum erstenmale sah, und nicht Gelegenheit hatte, ihren weit über ihre sechzehn Jahre hinaus gebildeten Geist zu erkennen.
Am dritten Tage nach ihrer Ankunft rollten beide Damen sehr fröhlich über die Zugbrücke der alten Burg der Stadt wiederum zu. Gabriele athmete erleichtert auf, indem sie ihnen nachsah, aber im nämlichen Moment traf sie wie ein Donnerschlag aus heitrer Luft die Erklärung ihres Vaters, daß sie in acht Tagen den Damen folgen würde, um wenigstens bis zum Frühling bei diesen zu verweilen. Dennoch vernahm sie den Befehl, ohne eine Einwendung dagegen zu wagen, denn die Möglichkeit, mit Blicken oder Worten dem Willen ihres Vaters zu widerstreben, war ihr nie in ihre Seele gekommen.
Es that ihr sehr weh, alle liebe, gewohnte, durch die einstige Gegenwart ihrer Mutter geheiligte Umgebungen verlassen zu müssen, besonders da sie vernahm, daß Frau Dalling sie zwar begleiten aber gleich nach vollendeter Reise zurückkehren würde, um wie sonst dem Haushalt ihres Vaters vorzustehen. Der schmerz über den Tod ihrer Mutter ergriff sie mit verdoppelter Gewalt; sie fühlte, wie trostlos sie in der Stadt unter Fremden seyn würde, von denen keiner ihre Mutter gekannt hatte. Hier im Schloß war sie es nicht, wenn sie auch weinte; der Mutter Geist wehte noch über alles, was sie umgab, sie setzte gleichsam unter seinem Schutz das gewohnte Daseyn fort, und achtete sich nicht durch das Grab gänzlich von ihrer Mutter geschieden. Dabei fühlte sie ein unnennbares Grauen, wenn sie sich das künftige Leben mit der Gräfin und Aurelien lebhaft dachte, ein Gefühl, das durch die Art, wie beide sich in diesen Tagen gegen sie benommen hatten, recht wohl zu entschuldigen war; aber sie hatte Kraft genug ihr innres Widerstreben während der ganzen acht Tage, die sie noch im Schloß ihres Vaters blieb, zu verbergen, und mit schweigender Ergebung allen Anstalten zu ihrer Abreise zuzusehen. Sie gedachte dabei der Lehren und des Beispiels ihrer Mutter, jeder Tag des Lebens der früh Verklärten war ja auch durch alle die unzähligen, unbemerkten Opfer bezeichnet, die das Loos so vieler Frauen sind, welche die nur nach dem Schein urtheilende Welt glücklich preist. Gabriele hatte von ihr gelernt, sie für die Bestimmung ihres ganzen Geschlechts zu halten, aber auch das Unvermeidliche mit guter Art zu ertragen.
Nur am Abend des letzten Tages im väterlichen Hause ward die Last des Schmerzes und der Sorge der jungen Brust zu mächtig und zwang ihr laute Klagen ab. Zum letztenmal saß sie mit ihrer lieben Frau Dalling in dem vertrauten Zimmer, wo sie gewohnt hatte, seit sie geboren war; sie hatte an diesem Tage alle ihre lieben Plätze in Garten und Wald noch einmal einsam besucht, hatte im Zimmer, welches sonst ihre Mutter bewohnte, und am stillen Grabe, in welchem diese jetzt ruhte, zu ihr wie zu einer Heiligen gebetet; auch ihr Vater hatte ihr schon Lebewohl gesagt, und seine ihr ganz ungewohnte Freundlichkeit beim Abschied war ihr tief ins Herz gedrungen. Allen Bedienten im Schloß, unter deren Augen sie aufgewachsen war, hatte sie freundlich die Hand gereicht, sie zum letztenmal durch kleine Gaben erfreut und betrübt, und ihrer Sorgfalt die einzigen Spielgefährten ihrer Kindheit aufs dringendste empfohlen. Dieses waren schöne Blumen, ihre lieben Zöglinge, und viele freundliche zahme Thiere, welche sich jeden Morgen in buntem Gewühl um sie drängten. Jetzt ward ihr zu Muthe, als wäre sie von ihrem ganzen Jugendleben geschieden, und mit einem Strom heißer, langverhaltner Thränen warf sie sich in die treuen Arme der Pflegerin ihrer Kindheit, von der sie auch in wenigen Tagen sich trennen sollte.
Frau Dalling stellte vergebens dem weinenden Mädchen vor, daß Tausende an seiner Stelle sich überglücklich fühlen würden, wenn sie das öde Schloß mit dem glänzenden Hause der Gräfin Rosenberg vertauschen sollten. Gabriele aber hatte keinen Sinn für die Freuden, die dort sie erwarten mochten. Wie die Tante und Aurelien, so dachte sie sich die Welt, in welcher sie künftig leben sollte. Aus deren Benehmen gegen sie schloß sie auf den Empfang, welcher sie in der Gesellschaft erwartete. Uebersehen oder verspottet zu werden, ist eine gar zu traurige Alternative für ein junges, an Liebe gewöhntes Wesen, und etwas anders glaubte sie nicht hoffen zu dürfen. Auch der Trost, daß der Frühling sie wieder in ihre Heimath zurückführen würde, machte keinen Eindruck auf das tiefbetrübte Kind. Die Bäume begannen eben erst, sich herbstlich zu färben, acht Monate mußten wenigstens vergehen, ehe sie wieder im Blüthenschmuck prangten. Im reifern Alter reihen sich die Tage sehr schnell zu Wochen und Monden, sie werden zu Jahren, ehe wir uns dessen versehen, aber im sechzehnten Jahre dünken uns acht Monate eine so unabsehbare Zukunft, daß Gabriele sie kaum zu erleben glaubte.
Mit wahrer Freude sah Baron Aarheim am folgenden Morgen den Wagen in aller Frühe nach der Schloßbrücke fahren, in welchem die trauernde Gabriele neben ihrer Dalling saß. Er athmete dabei hoch auf, als sey er einer schweren Sorge entledigt, und verschloß sich sorgsamer und eifriger als je bei seinem Forschen nach den dunkeln Geheimnissen der Natur, fest bestimmt, durch keine andern Geschäfte sich davon abhalten zu lassen. Frau Dalling hatte im Lauf von mehr als sechzehn Jahren sich zu treu bewiesen, als daß er ihr nicht bei ihrer baldigen Rückkehr die Besorgung seiner häuslichen Angelegenheiten ohne Bedenken hätte überlassen sollen; übrigens bekümmerte ihn die Verwaltung seines Gutes jetzt sehr wenig, da er in kurzem der Besitzer unermeßlichen Reichthums zu werden gedachte.
Zum erstenmal überschritt jetzt Gabriele die enge Gränze des kleinen Gebiets ihres Vaters, denn Auguste hatte auch hierin seinen deutlich ausgesprochnen Willen geehrt, und war mit ihrer Tochter gern in den Schranken geblieben, welche er ihr zu setzen für gut hielt. Als Gabriele die letzten bekannten Bäume und Hütten hinter sich gelassen hatte, kam ihr alles unheimlich und unabsehbar groß vor, was sie erblickte. Das Rasseln der Räder ihres Wagens durch die engen, schmutzigen Straßen des ersten kleinen Städtchens erschreckte und beängstigte sie; die Leute, denen sie darin begegnete, erregten ihr Grauen, denn sie grüßte sie freundlich, wie sie es gewohnt war, und sie starrten sie verwundert an, ohne ihren Gruß zu erwiedern.
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