Endlich mochte sie gar nichts mehr sehen, schloß die Jalusieen des Wagens, wickelte sich in ihren Schleier und saß lange in schweigendem Sinnen verloren, bis Frau Dalling dem Wunsch nicht mehr widerstehen konnte, durch liebkosende Fragen ihre junge Reisegefährtin aus ihren Träumereien zu erwecken.

Sey ruhig, gute Dalling, entgegnete ihr Gabriele, ich dachte jetzt an meine Mutter, und überlegte was ich thun muß, um zu seyn, wie sie es wünschen würde. Der Zeitpunkt ist sehr früh gekommen, den sie mir so oft mit schmerzlichem Vorgefühl andeutete; ich trete jetzt in die fremde Welt, und ohne sie. Aber sie soll mir nicht gestorben seyn, ich will wie unter ihren Augen mein Leben fortsetzen, denn hier in meiner Brust fühle ich zu deutlich alles, was sie mir rathen würde, und die fremden Leute sollen mich nicht darin stören. Finde ich ein Wesen, das ich lieben könnte, so will ich lieben, auch wenn man mich nicht bemerkt, und ich werde glücklich seyn, denn wer liebt, ist glücklich; alles andre was kommen kann, werde ich gefaßt zu ertragen streben, wie meine Mutter auch that; darum, liebe Dalling, gräme dich nicht um mich, auch wenn du mich in wenigen Tagen verlassen mußt; freilich thut mir noch das Herz sehr weh, aber alles soll dennoch gut werden.

Von diesem Moment an ward Gabriele augenscheinlich heiterer, Frau Dalling sah mit einiger Freude, wie das junge Kind gegen seine vorige Trostlosigkeit ankämpfte, selbst gegen das Bangen vor dem ersten Eintritt in das gefürchtete Haus der Tante und in neue unbekannte Verhältnisse. Sie ist ganz wie die Mutter, dachte die gute Frau, aber doch auch ein wenig wie der Vater.

 

Am Abend des zweiten Tages der Reise langten unsre Wandrer ziemlich früh in dem ihnen vom Baron bestimmten Nachtquartiere an; es war das letzte unterwegs, denn sie gedachten, am folgenden Tage noch bei guter Zeit den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen. Der Wagen hielt vor der Thüre eines großen ansehnlichen Gasthofes, mitten auf dem gewühlvollen Marktplatz der ersten bedeutenden Stadt, welche Gabriele sah. Viele Fremde füllten die Fenster des Hauses und betrachteten mit und ohne Brille neugierig die Aussteigenden. Diesen kam der auf ihre Ankunft vorbereitete sehr elegante Gastwirth höflich entgegen. Alles war Gabrielen neu und beängstigte sie nicht wenig, sie eilte durch die Schaar der zu ihrem Empfang geschäftig hin und her laufenden Aufwärter, und war herzlich froh, so schnell als möglich in das für sie bereitete Zimmer flüchten zu können. Dort fühlte sie sich vor allen den vielen Augen gerettet und blickte mit Wohlgefallen aus dem Fenster auf das ihr ganz neue Schauspiel der Kutschen und geputzten Leute, die dem nahen Theater zuwogten.

Lautes Lachen dicht unter ihrem Fenster machte sie aufmerksam; sie sah eine Menge Zuschauer um einen sehr schönen Reisewagen vor der Thüre des Gasthofes versammelt, aus welchem eben zu Gabrielens Verwunderung ein altes Mütterchen in der ärmlichsten Bauerntracht, gebückt und mühsam heraus kletterte. Ein junger Mann von vornehmem Ansehen unterstützte sie mit seinem Bedienten und geleitete sie mit großer Sorgfalt in das Haus, ohne sich durch die lauten Anmerkungen der Umstehenden im mindesten dabei stören zu lassen.

Da hat uns der Herr Graf einen angenehmen Gast mitgebracht, Herr Lorenz! hörte Gabriele den Kellner zu dem eben wieder hinaustretenden Kammerdiener des Fremden sagen, die Alte sieht ja aus, als wäre ihr die Ofengabel unterwegs scheu geworden und habe sie abgeworfen. Viel anders wird es auch wohl nicht seyn, erwiederte Herr Lorenz sehr verdrüßlich, wir fanden sie im Chaussee-Graben, und denken sie nur, fuhr er fort, ich mußte wegen des häßlichen Ungethüms aus dem Wagen und auf den Kutschbock neben den Jäger mich setzen. Unerhört! rief der Kellner, mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens. Ach was unerhört! antwortete Herr Lorenz noch verdrüßlicher, mein Herr macht mir alle Tage ähnliche Streiche, und am Ende fällt der Schimpf immer auf mich, wenn wir so wie heute vor den Leuten zum Spektakel werden, denn ihm ist das einerley. Hören Sie, lieber Herr Lorenz, sprach beschwichtigend der eben hinaustretende Wirth, das verstehen Sie nur nicht recht, der Herr Graf machen den Spleen mit, das ist jetzt unter den jungen Herrn eine ganz neue Mode aus England.

Gabriele mochte nichts weiter hören, sie wandte sich vom Fenster, konnte aber das kleine Abentheuer den ganzen übrigen Abend nicht vergessen. Der Wunsch, von der wunderlichen Reisegesellschaft mehr zu erfahren, überwand zuletzt die Furcht, in dem fremden Hause allein im Zimmer zu bleiben, und Frau Dalling mußte sich entschließen, ihrem Bitten nachzugeben und auf Erkundigung hinunter zu gehen. Der Name des Fremden war der Wirthin unbekannt, obgleich er schon einigemal ihr Haus besucht hatte. Uebrigens hörte Frau Dalling erzählen, daß der Fremde wirklich die arme Frau unterwegs halb ohnmächtig im Chausseegraben liegend gefunden und sie zu sich in den Wagen genommen habe, weil sie nicht weiter gehen konnte, und sich auf dem hohen Kutschersitz nicht festzuhalten vermochte. Die gute Alte war vor wenigen Wochen durch den Tod ihrer Tochter ihrer einzigen Stütze beraubt, und wollte jetzt nach Böhmen zu ihrem dort ansäßigen Sohne. Mühselig hatte sie sich viele lange Tage auf dem Wege dahin fortgeschleppt, bis sie vor Ermattung nicht weiter konnte, und ohne den Beistand des Fremden wäre ihr wahrscheinlich in der kalten Herbstnacht der Tod geworden. Jetzt war ihr geholfen, der Fremde hatte nicht nur für ihre augenblickliche Erquickung gesorgt, sondern sie auch so reichlich beschenkt, daß sie den Rest des Weges fahren konnte, ohne deshalb mit ganz leeren Händen bei ihrem Sohne anzulangen.

Die halbe Nacht hindurch mußte Gabriele an den Unbekannten und seine menschenfreundliche Handlung denken, sie träumte sogar von nichts Anderem. Nicht die That selbst war es, was sie in Bewunderung versetzte, diese kam ihr gar nicht außerordentlich vor, denn oft hatte sie ihre Mutter Aehnliches üben gesehen, wohl aber, daß ein Mann solchen zarten Mitleids, solcher thätigen Theilnahme an fremden Leiden fähig sey. Dieses feinere Gefühl hatte sie bis jetzt einzig für das Eigenthum der Frauen gehalten; sie kannte keinen Mann außer ihrem Vater, dessen in Erbitterung erstarrtes Gemüth bei jedem ähnlichen Anlasse nur zu deutlich sich aussprach. Mehr oder weniger ihm ähnlich dachte sie sich fast alle Männer im wirklichen Leben, und Auguste hatte absichtlich diese Meinung unangefochten gelassen.

Kein Wunder war es demnach, daß der Unbekannte Gabrielen wie eine seltene Erscheinung aus einer andern Welt vorschwebte. Gern hätte sie wenigstens die Züge seines Gesichts deutlich gesehen; obgleich sie aber am andern Morgen weit früher als Frau Dalling erwachte und vom Geräusch Abreisender sich an das Fenster locken ließ, so sah sie doch nur seine Gestalt, als er in den Wagen stieg, und hörte seine Stimme, indem er der alten Frau noch einige freundliche Abschiedsworte zurief. Etwas ungeduldiger als gewöhnlich fing Gabriele nun an, ihre eigene Abreise zu betreiben, im Wagen beschäftigte sie nur der Unbekannte, sie bildete sich tausend Möglichkeiten, ihn im Hause der Tante anzutreffen, sie dachte sich allerlei Verhältnisse, in welche sie mit ihm gerathen könnte, und sprach so lange mit ihrer Reisegefährtin von nichts Anderem, bis sie selbst über ihre kindische Einbildung lächelnd ausrief: Was denke ich weiter an ihn, er ist jetzt fern von hier und ich sehe ihn in meinem Leben nicht wieder. Aber in ihrem Herzen behauptete eine dem Wunsch sehr gleichende Ahnung das Gegentheil, und diese traf früher ein, als sie hoffen konnte, denn der Fremde war Ottokar.

 

Ein ungeheures Lärmen im Hause erweckte Gabrielen am ersten Morgen in ihrem neuen Aufenthalt. Thüren wurden auf- und zugeschlagen, Treppen und Vorsäle dröhnten von den Tritten der hin und her laufenden Bedienten und Handwerker, es war ein Hämmern, ein Fluchen, ein Rufen und Schelten, als sey eine feindliche Armee eingerückt und das Haus dem Abendfeste zu Ehren in völligem Aufruhr.

Gabriele schmiegte sich vor dem ungewohnten Getöse wie ein schüchternes Vögelchen in eine Ecke, bis die Stunde schlug, in der sie der Tante ihren Morgenbesuch abstatten mußte. Mit Erstaunen begegnete sie auf der Treppe dem wohlbekannten Herrn Lorenz, schwer belastet mit einem Korbe voll der auserlesensten Blumen. Seine Erscheinung freute sie, als ein Beweis, daß sie nicht irrte, indem sie in Ottokarn den Unbekannten aus dem Gasthofe wieder zu finden glaubte.