etc. ausgestattet waren, hielt.
Dort hatte Auguste ganz verdutzt seine Mütze zwischen seinen Fingern gedreht und ein kleines Bataillon Frauenzimmer gesehn, die alle wie aus einem Munde riefen:
»Ach, der hübsche Junge!«
»Aber sag mal, Kleiner, du hast noch nicht das richtige Alter,« fügte eine stattliche Brünette mit gebogner Nase und großen dunkeln Augen hinzu, die bei Madame Laura die unvermeidliche Rolle der schönen Jüdin vertrat.
Herzog Jean schien dort zu Hause zu sein und unterhielt sich leise mit der Wirtin.
»Sei doch nicht bange, Dummkopf,« rief er dem Jungen zu. »Triff deine Wahl, ich bezahle.« Und er gab dem Kleinen einen leichten Stoß, so daß er auf den Diwan zwischen zwei der Schönen fiel.
Auf ein Zeichen der Wirtin rückten diese etwas zusammen, hüllten die Knie des Jungen mit ihren Röcken ein und hielten ihm ihre entblößten Schultern, die stark nach einem betäubenden Puder rochen, unter die Nase. Der arme Kleine rührte sich nicht mehr; sein Kopf wurde ganz heiß und rot, der Mund trocken; er schlug die Augen nieder und wagte nur verstohlen einige neugierige Blicke.
Wanda, die schöne Jüdin, küßte ihn und gab ihm gute Ratschläge, empfahl ihm, seinem Vater und seiner Mutter zu gehorchen, und zur selben Zeit glitten ihre Hände langsam über den Jungen hin, dessen veränderte Gesichtszüge konvulsivisch zuckten.
»Es ist also nicht deinetwegen, daß du heute abend kommst?« fragte Madame Laura den Herzog. »Aber zum Teufel, wo hast du nur den Schlingel aufgetrieben?« fing sie wieder an, als Auguste mit der Schönen in einem Nebenzimmer verschwunden war.
»Auf der Straße, meine Beste.«
»Du bist doch nicht betrunken?« murmelte die alte Wirtin. Und nach einiger Überlegung fügte sie mit einem mütterlichen Lächeln hinzu: »Du liederlicher Strick, dir steht nach frischer Ware der Sinn!«
Herzog Jean zuckte mit den Achseln. »Du irrst dich gehörig! ja vollständig,« entgegnete er. »Die Wahrheit ist, daß ich einfach versuche, mir einen Mörder zu bilden. Folge einmal aufmerksam meiner Beweisführung. Dieser Junge ist noch rein, doch hat er das Alter erreicht, wo das Blut zu wallen anfängt; er würde hinter den jungen Mädchen in seinem Viertel herlaufen, sich amüsieren und doch noch rechtschaffen bleiben, um schließlich sein bescheidnes Teil an einem momentanen Glück zu genießen, wie es den Armen eben beschieden ist. – So aber, wo ich ihn hierher führe, in die Mitte eures Paradieses, das er gar nicht ahnt und das ihm notgedrungen im Gedächtnis verbleibt, und indem ich ihm alle vierzehn Tage eine solch unverhoffte Wonne zuteil werden lasse, wird er sich an den Genuß des Fleisches gewöhnen. Es wird ihm systematisch zum Bedürfnis werden! Nehmen wir selbst an, daß er drei Monate braucht, bis der Genuß ihm absolut notwendig geworden ist – und mit den langen Zwischenräumen, die ich mache, laufe ich keine Gefahr, ihn zu übersättigen – nun, am Ende dieser drei Monate werde ich die kleine Rente, die ich dir einzahlen werde, aufheben, und dann wird er stehlen wie ein Rabe, um hierher kommen zu können; er wird alle Hebel in Bewegung setzen, um sich auf diesem Diwan und unter diesem Gas wälzen zu können.
Die Sache zum äußersten getrieben: er wird, wie ich hoffe, eines Tags seinem Herrn, der ihn dabei betrifft, wie er den Geldschrank öffnet, einfach den Hals umdrehn, und so ist, wie du siehst, mein schöner Zweck erreicht. Ich werde im Verhältnis meiner Mittel eben dazu beigetragen haben, einen Schurken mehr zu schaffen, ein Nahrungsmittel der edlen Justitia, was mir als Feind dieser verabscheuten Gesellschaft, die uns brandschatzt, gerade recht ist.« –
Die Frauenzimmer sahn ihn mit großen Augen an.
»Da bist du ja!« fing er wieder an, als er Auguste in den Salon zurückkommen sah, der sich rot und verlegen hinter der schönen Jüdin zu verstecken suchte.
»Nun, mein Junge, es ist schon spät, sag diesen netten Damen gefälligst Adieu.«
Und auf der Treppe teilte er ihm mit, daß er alle vierzehn Tage, ohne daß es ihn einen Heller koste, zu Madame Laura gehn könne; dann auf der Straße angelangt, sah er den ganz betäubten Jungen einen Augenblick lang an und schloß:
»Wir werden uns wohl nicht wieder sehn; geh schnell heim zu deinem Vater, dessen Hand untätig juckt und behalte das gewissermaßen schöne evangelische Wort: ›Tue den andern das, was du nicht willst, das sie dir tun‹ wohl im Gedächtnis. Mit dieser Lebensregel wirst du weit kommen. – Gute Nacht! Vor allen Dingen sei nicht undankbar, laß so bald wie möglich von dir hören, das heißt auf dem Wege der hochlöblichen Gerichtszeitung.« – –
»Der kleine Judas!« murmelte Herzog Jean vor sich, das Feuer schürend; – »sich sagen zu müssen, daß ich seinen Namen noch niemals unter Vermischtes gelesen habe! – Es sei denn, daß er schon mit dem Gericht zu tun gehabt hätte, seit ich in Fontenay bin, wo ich keine Zeitungen mehr lese.«
Er stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab.
»Es wäre trotz alledem schade,« sagte er sich, »denn indem ich so handelte, machte ich das weltliche Gleichnis wahr, die Allegorie der allgemeinen Lehre, die nach nichts Geringerm strebt, als alle Menschen in einen ›Langlois‹ zu verwandeln, und sich den Kopf zerbricht, statt endlich den Elenden aus Mitleid die Augen auszustechen, um sie ihnen ganz und mit Gewalt zu öffnen, damit sie um sich herum nur unverdiente und mildre Schicksale sehn, verfeinerte und schärfre Genüsse wittern, die ihnen darum um so ersehnter und begehrenswerter erscheinen. –«
»Und die Tatsache ist,« fuhr der Herzog in seiner Schlußfolgerung fort, »die Tatsache ist die, daß der Schmerz eine Wirkung der Erziehung ist, daß er sich erweitert und schärft, je nachdem die Ideen entstehn: je mehr man sich also befleißigt, den Verstand und das Nervensystem der armen Teufel zu verfeinern, desto mehr wird man die gewaltig lebenskräftigen Keime des moralischen Leidens und Hasses in ihnen anfachen und entwickeln.« – –
Die Lampen kohlten. Er zog sie auf und sah nach der Uhr: drei Uhr morgens. – Er zündete sich eine Zigarette an und vertiefte sich von neuem in die durch seine Träumereien unterbrochne Lektüre des lateinischen Gedichts »De laude castitatis«, das unter der Regierung des Gondebald von Avitus, des Erzbischofs von Wien, geschrieben worden ist.
Siebentes Kapitel.
Seit jener Nacht, in der er ohne augenscheinliche Ursache die melancholische Erinnerung an Auguste Langlois wachgerufen hatte, lebte sein ganzes früheres Leben wieder in ihm auf.
Er war unfähig, ein Wort der Bücher zu verstehn, die er zu Rate zog; selbst seine Augen lasen nicht mehr; es war ihm, als wenn sein Geist, von Literatur und Kunst übersättigt, sich weigerte, mehr in sich aufzunehmen.
Er lebte nur noch in sich selbst, nährte sich von seinem eignen Mark, gleich Tieren während des Winterschlafes; denn die Einsamkeit hatte wie ein Schlaftrunk auf sein Gehirn gewirkt. Nachdem sie ihn anfangs entkräftet und hingehalten hatte, brachte sie schließlich eine Empfindungslosigkeit mit unbestimmten Träumereien in ihm hervor; sie vernichtete seine Absichten, brach seinen Willen, führte ihm eine Reihe von Träumen vor, die er passiv ertrug, ohne auch nur zu versuchen, sich ihnen zu entziehn.
Die verworrne und ungeregelte Lektüre, das künstliche Denken, dem er sich seit seiner Zurückgezogenheit hingegeben hatte, glich einem Damm, mit dem er seine alten Erinnerungen umgab; dieser Damm war plötzlich gewaltsam durchbrochen, die Flut setzte sich in Bewegung, riß Gegenwart und Zukunft mit sich, um alles gleichsam unter Wasser zu setzen und seinen Geist mit einer unendlichen Traurigkeit zu erfüllen, auf der unbedeutende Ereignisse seines Lebens und alberne Nichtigkeiten wie Strandgut umherschwammen.
Das Buch, das er in der Hand hielt, fiel oft achtlos auf den Boden; er ließ sich gehn, ließ voll Widerwillen und Scham die Jahre seines vergangnen Lebens an sich vorüberziehn.
Was war das für eine Epoche!
Er versetzte sich in die Zeit der vornehmen Abendgesellschaften, der Rennen, des Spiels, seiner Liebeleien. Er erinnerte sich der Gesichter, der Mienen, der nichtssagenden Worte, die ihn mit der Hartnäckigkeit trivialer Melodien verfolgten, die man wohl gegen seinen Willen summt, die sich aber schließlich mit einemmal, und ohne daß man daran denkt, wieder verlieren. Diese Periode war von kurzer Dauer. Es trat darauf Gedächtnisruhe ein; er versenkte sich aufs neue in seine lateinischen Studien, um die Rückblicke selbst bis zum Eindruck zu verwischen.
Doch der Reigen war eröffnet, fast unmittelbar folgte eine zweite Phase, nämlich die Erinnerungen seiner Kindheit, besonders an die Jahre, die er bei den Jesuiten zugebracht hatte.
Diese Erinnerungen waren die entferntesten und doch klarsten seines Gedächtnisses, ihm scharf und tief eingegraben: der schattige Park, die langen Alleen, die Blumenbeete, die Bänke – alle die kleinen Einzelheiten stiegen in seiner Einsamkeit vor ihm auf. Er sah die Gärten sich beleben, hörte das Geschrei der Schüler, das Lachen der Lehrer, die sich während der Erholungsstunden unter die Schüler mischten und sich, den hochgeschürzten Priesterrock zwischen den Knien haltend, dem Ballspiel hingaben oder auch mit den jungen Leuten ganz ungezwungen wie Kameraden unter den Bäumen plauderten.
Die Jesuiten erlangten durch diese Methode einen wirklichen Einfluß auf das Kind, brachten es dahin, die geistigen Gaben, die sie kultivierten, gewissermaßen zu kneten, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken, sie gleichsam mit besondern Ideen zu pfropfen, ihre Gedankenzunahme durch eine eindringlich einschmeichelnde Methode zu fördern, indem sie sich bemühten, ihren Schülern später, beim Eintritt in die Welt, zu folgen und sie zu unterstützen, indem sie ihnen liebevolle Briefe sandten, wie sie der Dominikaner Lacordaire an seine ehemaligen Zöglinge zu schreiben verstand.
Herzog Jean gab sich von dem Erziehungsverfahren Rechenschaft, das er, wie er sich einbildete, ohne Resultat hatte über sich ergehn lassen; sein Charakter, der allen Ratschlägen gegenüber rebellisch, spitzfindig, argwöhnisch und zum Widerspruch geneigt war, hatte ihn verhindert, durch ihre Zucht gebildet, ihren Lehren unterworfen zu werden. Einmal dem Kollegium entwachsen, hatte sein Skeptizismus nur noch zugenommen; sein Weg durch eine legitimistisch-unduldsame und beschränkte Welt, die Unterhaltung mit unwissenden Kirchenvorstehern und niedrigen Geistlichen, deren Ungeschicktheit den Schleier zerrissen hatte, der so kunstgerecht von den Jesuiten gewebt war, bestärkten nur noch seinen unabhängigen Geist und vermehrten sein Mißtrauen gegen jeden Glauben.
Er erachtete sich im ganzen genommen frei von jedem Band, von jedem Zwang; er hatte einfach, anders als alle andern, die im Lyzeum oder in weltlichen Pensionaten erzogen waren, der Anstalt und seinen Lehrern ein vortreffliches Andenken bewahrt; und jetzt, wo er mit sich zu Rate ging, kam er dahin, sich zu fragen, ob der Same, bislang auf unfruchtbaren Boden gefallen, nicht anfinge aufzugehn.
Und wirklich, seit einigen Tagen befand er sich in einem unbeschreiblichen Seelenzustand. Während eines Augenblicks glaubte er sich instinktmäßig der Religion zugeführt; bei der geringsten Beweisführung aber verflog seine Hinneigung zum Glauben; trotzdem blieb er voll Unruhe und Verwirrung.
Er wußte indessen wohl, indem er in sich ging, daß er niemals den Geist der wahrhaft christlichen Demütigung und Reue hätte; er wußte, daß der Augenblick, von dem der Pater Lacordaire spricht, dieser Augenblick der Gnade, »wo der letzte Lichtstrahl in die Seele dringt und die dort zerstreuten Wahrheiten in einem gemeinsamen Zentrum wieder fixiert,« für ihn niemals käme; er fühlte nicht das Bedürfnis der Demütigung und des Gebetes, ohne die nach der Wahrheit der Priester keine Bekehrung möglich ist; er empfand nicht den Wunsch, Gott anzuflehn, dessen Barmherzigkeit ihm am wenigsten wahrscheinlich schien; und doch brachte es die Sympathie, die er für seine ehemaligen Lehrer bewahrte, dahin, ihn für sie und ihre Doktrinen zu interessieren. Diese unnachahmliche Sprache der Überzeugung, diese begeisternden Stimmen höherer Intelligenz fielen ihm wieder ein und hatten zur Folge, daß er an seinem Geist und seinen Kräften zweifelte. In seiner Einsamkeit, ohne neue Nahrung, ohne frisch empfundne Eindrücke, ohne Erneuerung der Gedanken und Austausch von Empfindungen, die von außen kommen, in dieser unnatürlichen Verbannung, in der er eigensinnig verharrte, stellten sich alle Streitfragen, die er während seines Aufenthaltes in Paris vergessen hatte, von neuem wie aufregende Rätsel vor seinem Geist dar.
Die Lektüre der lateinischen Werke, die ihm sonst angenehm war, Werke meist von Bischöfen und Mönchen verfaßt, hatte ohne Zweifel zu dieser Krisis beigetragen. Eingehüllt in eine Klosteratmosphäre, in einen Duft von Weihrauch, der ihm den Kopf benahm, hatten sich die Nerven aufgeregt; durch eine Ideenverbindung hatten diese Bücher die Erinnerungen an seine Jugendzeit bei den Jesuiten wieder ans Licht gefördert.
»Die Sache ist klar,« sagte sich der Herzog Jean, indem er vernünftig nachzudenken und dem Gang dieser Einführung des Jesuitenelements in Fontenay zu folgen versuchte – »ich habe seit meiner Kindheit, und ohne es je gewußt zu haben, diesen Stoff, der noch nicht gegärt hatte, in mir selbst; diese Vorliebe, die ich immer für alle religiösen Sachen gehabt habe, ist vielleicht ein Beweis dafür.«
Dennoch versuchte er sich vom Gegenteil zu überzeugen; unzufrieden, nicht mehr unumschränkter Herr über sich selbst zu sein, holte er Gründe herbei. Er hatte sich notgedrungen der Geistlichkeit zuwenden müssen, da die Kirche allein die verloren gegangene Kunst und Form der Jahrhunderte gesammelt hatte; sie hat selbst bis zu den gewöhnlichen modernen Erzeugnissen herab die Formen der Goldschmiedekunst bewahrt, den Zauber der schlanken Kelche und der Hostiengefäße in ihrer edeln Rundung auf uns gebracht, sie hat sogar in dem modernen Aluminium, in unedeln Metallen, in farbigem Glas die Grazie der mittelalterlichen Formen beibehalten.
Die meisten der kostbaren Gegenstände, die im Museum von Cluny klassifiziert und wie durch Wunder der gemeinen Raubgier der Sansculotten entgangen sind, stammen aus den alten Abteien Frankreichs her. Ebenso wie die Kirche im Mittelalter die Philosophie, die Geschichte und Sprache vor dem Verfall geschützt hat, so hat sie auch die plastische Kunst hinübergerettet.
Bis zu unsern Tagen haben sich jene wunderbaren Muster von Geweben und Goldschmiedekunst erhalten, die die Fabrikanten kirchlicher Gegenstände verhunzen, ohne ganz auf die ursprüngliche entzückende Form verzichten zu können.
1 comment