Ich fodre daß der Dichter nicht nur die menschliche Natur kenne, in so ferne sie das Modell aller seiner Nachbildungen ist; ich fodre, daß er auch auf die Zuschauer Rücksicht nehme, und genau wisse, durch welche Wege man sich ihres Herzens Meister macht; daß er jeden starken Schlag, den er auf solches tun will, unvermerkt vorbereite; daß er wisse wenn es genug ist, und, eh er es uns durch einerlei Eindrücke völlig ermüdet, oder einen Affect bis zu dem Grade, wo er peinigend zu werden anfängt, in uns erregt, dem Herzen kleine Ruhepunkte zur Erholung gönne, und die Regungen, die er uns mitteilt, ohne Nachteil der Hauptwirkung, zu vermannichfaltigen wisse. Ich fodre von ihm eine schöne, und ohne Ängstlichkeit mit äußerstem Fleiße polierte Sprache; einen immer warmen kräftigen Ausdruck, einfach und erhaben, ohne jemals zu schwellen noch zu sinken, stark und nervicht, ohne rauh und steif zu werden, glänzend, ohne zu blenden; wahre Heldensprache, die immer der lebende Ausdruck einer großen Seele und unmittelbar vom gegenwärtigen Gefühl eingegeben ist, nie zu viel, nie zu wenig sagt, und, gleich einem dem Körper angegoßnen Gewand, immer den eigentümlichen Geist des Redenden durchscheinen läßt. Ich fodre, daß derjenige, der sich unterwindet, Helden reden zu lassen, selbst eine große Seele habe; und indem er durch die Allgewalt der Begeisterung in seinen Helden verwandelt worden ist, alles, was er ihm in den Mund logt, in seinem eignen Herzen finde. Ich fodre –
»O, Herr Demokritus«, – riefen die Abderiten, die sich nicht länger zu halten wußten – »Sie können, da Sie nun einmal im Fodern sind, alles fodern was Ihnen beliebt. In Abdera läßt man sich mit wenigerm abfinden. Wir sind zufrieden, wenn uns ein Dichter rührt. Der Mann, der uns lachen oder weinen macht, ist in unsern Augen ein göttlicher Mann, mag er es doch anfangen wie er selbst will. Dies ist seine Sache, nicht die unsrige! Hyperbolus gefällt uns, rührt uns, macht uns Spaß; und gesetzt auch, daß er uns mitunter gähnen macht, so bleibt er doch immer ein großer Dichter! Brauchen wir eines weitern Beweises?«
Die Schwarzen an der Goldküste, sagte Demokritus, tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaffells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu sein. Wie viel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Märchen, in einem kläglichen Tone hergeleiert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmärchen gleich ein herrliches Werk ist?
»Sie sind sehr höflich, Demokritus –«
Um Vergebung! Ich bin so unhöflich, jedes Ding bei seinem Namen zu nennen; und so eigensinnig, daß ich nie gestehen werde, alles sei schön und vortrefflich, was man so zu nennen beliebt.
»Aber das Gefühl eines ganzen Volkes wird doch mehr gelten, als der Eigendünkel eines einzigen?«
Eigendünkel? Das ist es eben, was ich aus den Künsten der Musen verbannt sehen möchte. Unter allen den Foderungen, wovon die Abderiten ihren Günstling Hyperbolus so gütig loszählen, ist keine einzige, die nicht auf die strengste Gerechtigkeit gegründet wäre. Aber das Gefühl eines ganzen Volkes, wenn es kein gelehrtes Gefühl ist, kann und muß in unzähligen Fällen betrüglich sein.
»Wie, zum Henker! (rief ein Abderite, der mit seinem Gefühl sehr wohl zufrieden schien,) Sie werden uns am Ende wohl gar noch unsre fünf Sinne streitig machen?«
Das verhüte der Himmel! antwortete Demokritus. Wenn Sie so bescheiden sind, keine weitere Ansprüche zu machen, als auf fünf Sinne, so wär' es die größte Ungerechtigkeit, Sie im ruhigen Besitze derselben stören zu wollen. Fünf Sinne sind allerdings, zumal wenn man alle fünfe zusammennimmt, vollgültige Richter in allen Dingen, wo es darauf ankömmt, zu entscheiden, was weiß oder schwarz, glatt oder rauh, weich oder hart, dick oder dünn, bitter oder süß ist. Ein Mann, der nie weiter geht, als ihn seine fünf Sinne führen, geht immer sicher; und in der Tat, wenn euer Hyperbolus dafür sorgen wird, daß in seinen Schauspielen jeder Sinn ergötzt und keiner beleidiget werde, so stehe ich ihm für die gute Aufnahme, und wenn sie noch zehnmal schlechter wären als sie sind.
Wäre Demokritus zu Abdera weiter nichts gewesen, als was Diogenes zu Korinth war, so möchte ihm die Freiheit seiner Zunge vielleicht einige Ungelegenheit zugezogen haben. Denn so gerne die Abderiten über wichtige Dinge spaßten, so wenig konnten sie ertragen, wenn man sich über ihre Puppen und Steckenpferde lustig machte. Aber Demokritus war aus dem besten Hause in Abdera, und, was noch mehr zu bedeuten hat, er war reich. Dieser doppelte Umstand machte, daß man ihm nachsah, was man einem Philosophen in zerrißnem Mantel schwerlich zu gut gehalten hätte. »Sie sind auch ein unerträglicher Mensch, Demokritus!« schnarrten die schönen Abderitinnen, und – ertrugen ihn doch.
Der Poet Hyperbolus machte noch am nämlichen Abend ein entsetzliches Sinngedicht auf den Philosophen. Des folgenden Morgens lief es bei allen Putztischen herum; und in der dritten Nacht ward es in allen Gassen von Abdera gesungen. Denn Demokritus hatte eine Melodie dazu gesetzt.
Neuntes Kapitel
Gute Gemütsart der Abderiten, und wie sie sich an dem Philosophen Demokritus wegen seiner Unhöflichkeit zu rächen wissen
Eine seiner Strafpredigten zur Probe
Die Abderiten machen ein Gesetz gegen alle Reisen, wodurch ein abderitisches Mutterkind hätte klüger werden können
Merkwürdige Art, wie de Nomophylax Gryllus eine aus diesem Gesetz entstandene Schwierigkeit auflöst
Es ist ordentlicher Weise eine gefährliche Sache, mehr Verstand zu haben als seine Mitbürger. Sokrates mußt' es mit dem Leben bezahlen; und wenn Aristoteles mit ganzer Haut davon kam, als ihn der Oberpriester Eurymedon zu Athen der Ketzerei anklagte, so kam es bloß daher, weil er sich in Zeiten aus dem Staube machte. Ich will den Atheniensern keine Gelegenheit geben, sagte er, sich zum zweitenmale an der Philosophie zu versündigen19.
Die Abderiten waren bei allen ihren menschlichen Schwachheiten wenigstens keine sehr bösartigen Leute. Unter ihnen hätte Sokrates so alt werden können als Nestor. Sie hätten ihn für eine wunderliche Art von Narren gehalten, und sich über seine vermeintliche Torheit lustig gemacht; aber die Sache bis zum Giftbecher zu treiben, war nicht in ihrem Charakter. Demokritus ging so scharf mit ihnen zu Werke, daß ein weniger jovialisches Volk die Geduld dabei verloren hätte. Gleichwohl bestund alle Rache, die sie an ihm nahmen, darin, daß sie (unbekümmert mit welchem Grunde) eben so übel von ihm sprachen als er von ihnen, alles tadelten, was er unternahm, alles lächerlich fanden, was er sagte, und von allem, was er ihnen riet, gerade das Gegenteil taten. »Man muß dem Philosophen durch den Sinn fahren, sagten sie; man muß ihm nicht weis machen, daß er alles besser wisse als wir« – und, dieser weisen Maxime zufolge, begingen die guten Leute eine Torheit über die andre, und glaubten, wie viel sie dabei gewonnen hätten, wenn es ihn verdrösse. Zum Unglück verfehlten sie darin ihres Zweckes gänzlich.
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