Daher kam es denn, durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut sein könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. Ein Begriff, der ihren Begriffen widersprach, eine Gewohnheit, die von den ihrigen abging, eine Art zu denken oder etwas ins Auge zu fassen, die ihnen fremde war, hieß ihnen, ohne weitere Untersuchung, ungereimt und belachenswert. Die Natur selbst schrumpfte für sie in den engen Kreis ihrer eigenen Tätigkeit zusammen; und wiewohl sie es nicht so weit trieben, sich, wie die Japaner, einzubilden, außer Abdera wohnten lauter Teufel, Gespenster und Ungeheuer: so sahen sie doch wenigstens den Rest des Erdbodens und seiner Bewohner als einen ihrer Aufmerksamkeit unwürdigen Gegenstand an; und wenn sie zufälliger Weise Gelegenheit bekamen, etwas Fremdes zu sehen oder zu hören, so wußten sie nichts damit zu machen, als sich darüber aufzuhalten, und sich selbst Glück zu wünschen, daß sie nicht wären wie andere Leute. Dies ging so weit, daß sie denjenigen für keinen guten Bürger hielten, der an einem andern Orte bessere Einrichtungen oder Gebräuche wahrgenommen hatte als zu Hause. Wer das Glück haben wollte, ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings so reden und tun, als ob die Stadt und Republik Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stücken, Eigenschaften und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelich, und das Ideal aller Republiken gewesen wäre.
Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht abderitisch hieß, war die Stadt Athen allein ausgenommen; aber auch diese vermutlich nur deswegen, weil die Abderiten, als ehmalige Tejer, ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt anzusehen. Sie waren stolz darauf, für das thracische Athen gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine Schmeichelei lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athenienser in allen Stücken zu copieren; und copierten sie genau – wie der Affe den Menschen. Wenn sie, um lebhaft und geistreich zu sein, alle Augenblicke ins Possierliche fielen; wichtige Dinge leichtsinnig, und Kindereien ernsthaft behandelten; das Volk oder ihren Rat um jeder Kleinigkeit willen zwanzigmal versammelten, um lange, alberne Reden pro und contra über Sachen zu halten, die ein Mann von alltäglichem Menschenverstand in einer Viertelstunde besser als sie entschieden hätte; wenn sie unaufhörlich mit Projecten von Verschönerung und Vergrößerung schwanger gingen, und, so oft sie etwas unternahmen, immer erst mitten im Werke ausrechneten, daß es über ihre Kräfte gehe; wenn sie ihre halbthracische Sprache mit attischen Redensarten spickten; ohne den mindesten Geschmack eine ungeheure Passion für die Künste affectierten, und immer von Malerei und Statuen und Musik und Rednern und Dichtern schwatzten, ohne jemals einen Maler, Bildhauer, Redner oder Dichter, der des Namens wert war, gehabt zu haben; wenn sie Tempel bauten, die wie Bäder, und Bäder, die wie Tempel aussahen; wenn sie die Geschichte von Vulcans Netze in ihre Ratsstube, und den großen Rat der Griechen über die Zurückgabe de schönen Chryseis in ihre Akademie malen ließen; wenn sie in Lustspiele gingen, wo man sie zu weinen, und in Trauerspiele, wo man sie zu lachen machte; und in zwanzig ähnlichen Dingen glaubten die guten Leute – Athenienser zu sein, und waren – Abderiten.
Wie erhaben der Schwung in diesem kleinen Gedicht ist, das Physignatus auf meine Wachtel gemacht hat! sagte eine Abderitin. Desto schlimmer! sagte Demokritus.
Sehen Sie, sprach der erste Archon von Abdera, die Fassade von diesem Gebäude, welches wir zu unserm Zeughause bestimmet haben? Sie ist von dem besten parischen Marmor. Gestehen Sie, daß Sie nie ein Werk von größerm Geschmack gesehen haben!
Es mag die Republik schönes Geld gekostet haben, antwortete Demokritus.
Was der Republik Ehre macht, kostet nie zu viel, erwiderte der Archon, der in diesem Augenblick den zweiten Perikles in sich fühlte; ich weiß, Sie sind ein Kenner, Demokritus: denn Sie haben immer an allem etwas auszusetzen. Ich bitte Sie, finden Sie mir einen Fehler an dieser Fassade?
Tausend Drachmen für einen Fehler, Herr Demokritus, rief ein junger Herr, der die Ehre hatte, ein Neffe des Archon zu sein, und vor kurzem von Athen zurückgekommen war, wo er sich aus einem abderitischen Bengel für die Hälfte seines Erbgutes zu einem attischen Gecken ausgebildet hatte.
Die Fassade ist schön, sagte Demokritus ganz bescheiden; so schön, daß sie es auch zu Athen oder Korinth oder Syrakus sein würde. Ich sehe, wenn's erlaubt ist, es zu sagen, nur Einen Fehler an diesem prächtigen Gebäude.
»Einen Fehler?« – sprach der Archon, mit einer Miene, die sich nur ein Abderite, der ein Archon war, geben konnte.
Einen Fehler! Einen Fehler! wiederholte der junge Geck, indem er ein lautes Gelächter aufschlug.
»Darf man fragen, Demokritus, wie ihr Fehler heißt?«
Eine Kleinigkeit, versetzte Demokritus; nichts als daß man eine so schöne Fassade – nicht sehen kann.
»Nicht sehen kann? Und wieso?«
Je, beim Anubis! wie wollen Sie daß man sie vor allen den alten übelgebauten Häusern und Scheunen sehen soll, die hier ringsum zwischen die Augen der Leute und Ihre Fassade hingesetzt sind?
»Diese Häuser stunden lange eh Sie und ich geboren wurden«, sagte der Archon.
Dergleichen Dialogen gab es, so lange der Philosoph unter ihnen lebte, alle Tage, Stunden und Augenblicke.
»Wie finden Sie diesen Purpur, Demokritus? Sie sind zu Tyrus gewesen; nicht wahr?«
Ich wohl, Madame, aber dieser Purpur nicht; dies ist Coccinum, das Ihnen die Syrakusaner aus Sardinien bringen und für tyrischen Purpur bezahlen lassen.
»Aber wenigstens werden Sie doch diesen Schleier für indianischen Byssus von der feinsten Art gelten lassen?«
Von der feinsten Art, schöne Atalanta, die man in Memphis und Pelusium verarbeiten läßt.
Nun hatte sich der ehrliche Mann zwo Feindinnen in Einer Minute gemacht. Konnte aber auch was ärgerlicher sein, als eine solche Aufrichtigkeit?
Achtes Kapitel
Vorläufige Nachricht von dem abderitischen Schauspielwesen
Demokritus wird genötigt, seine Meinung davon zu sagen
Die Abderiten wußten sich sehr viel mit ihrem Theater. Ihre Schauspieler waren gemeine Bürger von Abdera, die entweder von ihrem Handwerke nicht leben konnten, oder zu faul waren, eines zu lernen. Sie hatten keinen gelehrten Begriff von der Kunst, aber eine desto größere Meinung von ihrer eignen Geschicklichkeit; und wirklich konnt' es ihnen an Anlage nicht fehlen, da die Abderiten überhaupt geborne Gaukler, Spaßmacher und Pantomimen waren, an denen immer jedes Glied ihres Leibes mitreden half, so wenig auch das, was sie sagten, zu bedeuten haben mochte.
Sie besaßen auch einen eignen Schauspieldichter, Hyperbolus genannt, der, wenn man ihnen glaubte, ihre Schaubühne so weit gebracht hatte, daß sie der atheniensischen wenig nachgab. Er war im Komischen so stark als im Tragischen, und machte überdies die possierlichsten Satyrenspiele18 von der Welt, worin er seine eignen Tragödien so schnakisch parodierte, daß man sich, wie die Abderiten sagten, darüber bucklicht lachen mußte. Ihrem Urteile nach vereinigte er in seiner Tragödie den hohen Schwung und die mächtige Einbildungskraft des Aeschylus mit der Beredsamkeit und dem Pathos des Euripides, so wie in seinen Lustspielen des Aristophanes Laune und mutwilligen Witz mit dem feinen Geschmack und der Eleganz des Agathon. Die Behendigkeit, womit er seiner Werke entbunden wurde, war das Talent, worauf er sich am meisten zu gute tat. Er lieferte jeden Monat seine Tragödie, mit einem kleinen Possenspielchen zur Zugabe. Meine beste Komödie, sprach er, hat mich nicht mehr als vierzehn Tage gekostet, und gleichwohl spielt sie ihre vier bis fünf Stunden wohlgezählt.
Da sei uns der Himmel gnädig! dachte Demokritus.
Nun drangen die Abderiten immer von allen Seiten in ihn, seine Meinung von ihrem Theater zu sagen; und so ungern er sich mit ihnen über ihren Geschmack in Wortwechsel einließ, so konnt'er doch auch nicht von sich erhalten, ihnen zu schmeicheln, wenn sie ihm sein Urteil mit gesamter Hand abnötigten.
»Wie gefällt Ihnen diese neue Tragödie?«
Das Süjet ist glücklich gewählt. Was müßte der Autor auch sein, der einen solchen Stoff ganz zu Grunde richten sollte?
»Fanden Sie sie nicht sehr rührend?«
Ein Stück könnte in einigen Stellen sehr rührend, und doch ein sehr elendes Stück sein, sagte Demokritus. Ich kenne einen Bildhauer von Sicyon, der die Wut hat, lauter Liebesgöttinnen zu schnitzen.
Diese sehen überhaupt sehr gemeinen Dirnen gleich; aber sie haben alle die schönsten Beine von der Welt. Das ganze Geheimnis von der Sache ist, daß der Mann seine Frau zum Modelle nimmt, die, zum Glücke für seine Venusbilder, wenigstens die Beine schön hat. So kann dem schlechtesten Dichter zuweilen eine rührende Stelle gelingen, wenn es sich gerade zutrifft, daß er verliebt ist, oder einen Freund verloren hat, oder daß ihm sonst ein Zufall zugestoßen ist, der sein Herz in eine Fassung setzt, die es ihm leicht macht, sich an den Platz der Person, die er reden lassen soll, zu stellen.
»Sie finden also die Hekuba unsers Dichters nicht vortrefflich?«
Ich finde, daß der Mann vielleicht sein Bestes getan hat. Aber die vielen, bald dem Aeschylus, bald dem Sophokles, bald dem Euripides, ausgerupften Federn, womit er seine Blöße zu decken sucht, und die ihm vielleicht in den Augen mancher Zuhörer, denen jene Dichter nicht so gegenwärtig sind als mir, Ehre machen, schaden ihm in den meinigen. Eine Krähe, wie sie von Gott erschaffen ist, dünkt mich so noch immer schöner, als wenn sie sich mit Pfauen- und Fasanenfedern ausputzt. Überhaupt fodre ich von dem Verfasser eines Trauerspiels mit gleichem Rechte, daß er mir für meinen Beifall ein vortreffliches Trauerspiel, als von meinem Schuster, daß er mir für mein Geld ein Paar gute Stiefeln liefere; und wiewohl ich gerne gestehe, daß es schwerer ist, ein gutes Trauerspiel als gute Stiefeln zu machen: so bin ich darum nicht weniger berechtiget, von jedem Trauerspiel zu verlangen, daß es alle Eigenschaften habe, die zu einem guten Trauerspiel, als von einem Stiefel, daß er alles habe, was zu einem guten Stiefel gehört.
»Und was gehört denn, Ihrer Meinung nach, zu einem wohlgestiefelten Trauerspiel?« fragte ein junger abderitischer Patricius, herzlich über den guten Einfall lachend, der ihm, wie er glaubte, entfahren war.
Demokritus sprach mit einem kleinen Kreise von Personen, die ihm zuzuhören schienen, und fuhr, ohne auf die Frage des witzigen jungen Herrn Acht zu haben, fort. Die wahren Regeln der Kunstwerke, sprach er, können nie willkürlich sein. Ich fordre nichts von einem Trauerspiele, als was Sophokles von den seinigen fodert; und dies ist weder mehr noch weniger, als die Natur und Absicht der Sache mit sich bringt. Einen einfachen wohldurchgedachten Plan, worin der Dichter alles vorausgesehen, alles vorbereitet, alles natürlich zusammengefügt, alles auf Einen Punkt geführt hat; worin jeder Teil ein unentbehrliches Glied, und das Ganze ein wohlorganisierter, schöner, frei und edel sich bewegender Körper ist! Keine langweilige Exposition, keine Episoden, keine Scenen zum Ausfüllen, keine Reden, deren Ende man mit Ungeduld herbeigähnt, keine Handlungen, die nicht zum Hauptzwecke arbeiten! Interessante, aus der Natur genommene Charaktere, veredelt, aber so, daß man die Menschheit in ihnen nie verkenne; keine übermenschliche Tugenden, keine Ungeheuer von Bosheit! Personen, die immer ihren eigenen Individualbegriffen und Empfindungen gemäß reden und handeln; immer so, daß man fühlt, nach ihrem besondern Charakter, nach allen ihren vorhergehenden und gegenwärtigen Umständen und Bestimmungen, müssen sie im gegebenen Falle so reden, so handeln, oder aufhören zu sein was sie sind.
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