Was die Dispensation betrifft, so ist zwar an dem, daß man die Gesetze meistens um der Dispensationen willen macht; und ich zweifle nicht, daß der Senat uns ohne Schwierigkeit zugestehen würde, was jeder, in ähnlichen Fällen, Kraft des Gegenrechtes fodern zu können wünscht. Indessen hat doch jede Befreiung das Ansehen einer erwiesenen Gnade; und wozu haben wir nötig, uns Verbindlichkeiten aufzuhalsen? Das Gesetz ist ein schlafender Löwe, bei dem man, so lang er nicht aufgeweckt wird, so sicher als bei einem Lamme vorbeischleichen kann. Und wer wird die Unverschämtheit oder die Verwegenheit haben, ihn gegen den Sohn des Nomophylax aufzuwecken?

Dieser Beschirmer der Gesetze war, wie wir sehen, ein Mann, der von den Gesetzen und von seinem Amte sehr verfeinerte Begriffe hatte, und sich der Vorteile, die ihm das letztere gab, fertig zu bedienen wußte. Sein Name verdient aufbehalten zu werden. Er nannte sich Gryllus, des Cyniskus Sohn.

 

Zehntes Kapitel

 

Demokritus zieht sich aufs Land zurück, und wird von den Abderiten fleißig besucht
Allerlei Raritäten, und eine Unterredung vom Schlaraffenlande der Sittenlehrer

Demokritus hatte sich, da er in sein Vaterland zurückkam, mit dem Gedanken geschmeichelt, daß er demselben, mittelst alles dessen, um was sich sein Verstand und sein Herz indessen gebessert hatte, nützlich werden könnte. Er hatte sich nicht vorgestellt, daß es mit den abderitischen Köpfen so gar übel stünde, als er es nun wirklich befand. Aber da er sich einige Zeit unter ihnen aufgehalten, sah er augenscheinlich, daß es ein eitles Unternehmen gewesen wäre, sie verbessern zu wollen. Alles war bei ihnen so verschoben, daß man nicht wußte, wo man die Verbesserung anfangen sollte. Jeder ihrer Mißbräuche hing an zwanzig andern; es war unmöglich, einen davon abzustellen, ohne den ganzen Staat umzuschaffen. Eine gute Seuche (dacht er) welche das ganze Völkchen – bis auf etliche Dutzend Kinder, die gerade groß genug wären, um der Ammen entbehren zu können – von der Erde vertilgte, wäre das einzige Mittel, das der Stadt Abdera helfen könnte; den Abderiten ist nicht zu helfen!

Er beschloß also, sich mit guter Art von ihnen zurückzuziehen, und ging ein kleines Gut zu bewohnen, das er in der Gegend von Abdera besaß, und mit dessen Benutzung und Verschönerung er die Stunden beschäftigte, die ihm sein Lieblingsstudium, die Erforschung der Naturwirkungen, übrig ließ. Aber zum Unglück für ihn lag dies Landgut zu nah bei Abdera. Denn weil die Lage desselben ungemein schön, und der Weg dahin einer der angenehmsten Spaziergänge war: so sah er sich alle Tage Gottes von einem Schwarm von Abderiten und Abderitinnen, lauter Vettern und Basen, heimgesucht, welche das schöne Wetter und den angenehmen Spaziergang zum Vorwande nahmen, ihn in seiner glücklichen Einsamkeit zu stören.

Wiewohl Demokritus den Abderiten wenigstens eben so wenig gefiel als sie ihm, so war doch die Wirkung davon sehr verschieden. Er floh sie, weil sie ihm Langeweile machten; und sie suchten ihn, weil sie sich die Zeit dadurch vertrieben. Er wußte die seinige anzuwenden; sie hingegen hatten nichts bessers zu tun.

»Wir kommen, Ihnen in Ihrer Einsamkeit die Zeit kürzen zu helfen«, sagten die Abderiten. – Ich pflege in meiner eigenen Gesellschaft sehr kurze Zeit zu haben, sagte Demokritus.

»Aber wie ist es möglich, daß man immer so allein sein kann, rief die schöne Pithöka. Ich würde vor Langerweile vergehen, wenn ich einen einzigen Tag leben sollte, ohne Leute zu sehen.«

Sie versprachen sich; von Leuten gesehen zu werden, meinen Sie, sagte Demokritus.

»Aber woher nehmen sie auch, daß Demokritus Langeweile hat; sein ganzes Haus ist mit Seltenheiten angefüllt. Mit Ihrer Erlaubnis, Demokritus – lassen Sie uns doch alle die schönen Sachen sehen, die Sie auf Ihrer Reise gesammelt haben.«

Nun ging das Leiden des armen Einsiedlers erst recht an. Er hatte in der Tat eine schöne Sammlung von Naturalien aus allen Reichen der Natur; ausgestopfte Tiere, Vögel, Fische, Schmetterlinge, Muscheln, Versteinerungen, Erze, u.s.w. Alles war den Abderiten neu; alles erregte ihr Erstaunen. Der gute Naturforscher wurde in einer Minute mit so viel Fragen übertäubt, daß er, wie die Fama, aus lauter Ohren und Zungen hätte zusammengesetzt sein müssen, um auf alles antworten zu können.

»Erklären Sie uns doch, was dieses ist, wie es heißt? woher es ist, wie es zugeht, warum es so ist!«

Demokritus erklärte so gut er konnte und wußte; aber den Abderiten wurde nichts klärer dadurch; es war ihnen vielmehr, als begriffen sie immer weniger von der Sache je mehr er sie erklärte. Seine Schuld war es nicht!

»Wunderbar! Unbegreiflich! Sehr wunderbar!« – war ihr ewiger Gegenklang. –

So natürlich als etwas in der Welt! erwiderte Demokritus ganz kaltsinnig. –

»Sie sind gar zu bescheiden, Demokritus; oder vermutlich wollen Sie nur, daß man Ihnen desto mehr Complimente über Ihren guten Geschmack und über Ihre großen Reisen machen soll?« –

Setzen Sie sich deswegen in keine Unkosten, meine Herren; ich nehme alles für empfangen an.

»Aber es mag doch eine angenehme Sache sein, so tief in die Welt hinein zu reisen?« – sagte ein Abderit.

»Und ich dächte gerade das Gegenteil, sprach ein anderer. – Nehmen Sie alle die Gefahren und Beschwerlichkeiten, denen man täglich ausgesetzt ist; die schlimmen Straßen, die schlechten Gasthöfe, die Sandbänke, die Schiffbrüche, die wilden Tiere, Krokodile, Einhörner, Greifen und geflügelte Löwen, von denen in der Barbarei alles wimmelt.«

»Und dann, was hat man am Ende davon, (fiel ein Matador von Abdera ein,) wenn man gesehen hat, wie groß die Welt ist? Ich dächte, das Stück, das ich selbst davon besitze, käme mir dann so klein vor, daß ich keine Freude mehr daran haben könnte.«

»Aber rechnen Sie für nichts, so viel Menschen zu sehen?« – erwiderte der Erste.

»Und was sieht man denn da? Menschen! Die konnte man zu Hause sehen. Es ist allenthalben wie bei uns.«

»Ei, hier ist gar ein Vogel ohne Füße«, rief ein junges Frauenzimmer.

»Ohne Füße? – Und der ganze Vogel nur eine einzige Feder! das ist erstaunlich!« – sprach eine andere. »Begreifen Sie das?«

»Ich bitte Sie, Demokritus, erklären Sie uns, wie er gehen kann, da er keine Füße hat?«

»Und wie er mit einer einzigen Feder fliegt?«

»O, was ich am liebsten sehen möchte, sagte eine von den Basen, das wäre ein lebendiger Sphinx! Sie müssen deren wohl viele in Aegypten gefunden haben?«

»Aber ists möglich, ich bitte Sie, daß die Weiber und Töchter der Gymnosophisten in Indien – wie man sagt – Sie verstehen mich doch, was ich fragen will?«

Nicht ich, Frau Salabanda?

»O, Sie verstehen mich gewiß! Sie sind ja in Indien gewesen? Sie haben die Weiber der Gymnosophisten gesehen?«

O ja, und Sie können mir glauben, daß die Weiber der Gymnosophisten weder mehr noch weniger Weiber sind als die Weiber der Abderiten.

»Sie erweisen uns viele Ehre. Aber dies ist nicht, was ich wissen wollte. Ich frage, ob es wahr ist, daß sie – (Hier hielt Frau Salabanda eine Hand vor ihren Busen, und die andere – kurz, sie setzte sich in die Attitüde22 der mediceischen Venus, um dem Philosophen begreiflich zu machen, was sie wissen wollte.) Nun verstehen Sie mich doch?« sagte sie.

Ja, Madam, die Natur ist nicht karger gegen sie gewesen als gegen andre. Welch eine Frage das ist!

»Sie wollen mich nicht verstehen, Demokritus; ich dächte doch, ich hätte Ihnen deutlich genug gesagt, daß ich wissen möchte, ob es wahr sei, daß sie – weil Sie doch wollen, daß ichs Ihnen unverblümt sage – so nackend gehen, als sie auf die Welt kommen?«

»Nackend! – riefen die Abderitinnen alle auf einmal. Da wären sie ja noch unverschämter als die Mädchen in Sparta! Wer wird auch so was glauben?«

Sie haben Recht, sagte der Naturforscher; die Weiber der Gymnosophisten sind weniger nackend als die Weiber der Griechen in ihrem vollständigsten Anzuge: sie sind vom Kopf bis zu den Füßen in ihre Unschuld und in die öffentliche Ehrbarkeit eingehüllt.23

»Wie meinen Sie das?«

Kann ich mich deutlicher erklären?

»Ach, nun versteh ich Sie! Es soll ein Stich sein? Aber Sie scherzen doch wohl nur mit ihrer Ehrbarkeit und Unschuld.