Schleunig kehrte
er um, schluckte seine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den
Tisch gestellt hatte, steckte sein Stücklein Brot in die Tasche und
sagte eilig: »Ich muß in die Schule.«
»Ja, so geh und lern auch brav«, sagte die Mutter beistimmend.
Der Peter kroch zum Fenster hinaus - denn nun war man eingesperrt um
des Eisberges willen vor der Türe -, zog seinen kleinen Schlitten nach
sich, setzte sich darauf und schoß den Berg hinunter.
Es ging wie der Blitz, und als er beim Dörfli da ankam, wo es gleich
weiter hinab gegen Maienfeld hin ging, fuhr der Peter weiter, denn es
kam ihm so vor, als müßte er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn
er auf einmal den Lauf einhalten wollte. So fuhr er zu, bis er ganz
unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann
stieg er ab und schaute sich um. Die Gewalt der Niederfahrt hatte ihn
noch ziemlich über Maienfeld hinausgejagt. Jetzt bedachte er, daß er
jedenfalls zu spät in die Schule käme, da sie schon lange begonnen
hatte, er aber zum Hinaufsteigen fast eine Stunde brauchte. So konnte
er sich alle Zeit lassen zur Rückkehr. Das tat er denn auch und
kam gerade oben im Dörfli wieder an, als das Heidi aus der Schule
zurückgekehrt war und sich mit dem Großvater an den Mittagstisch
setzte. Der Peter trat herein, und da er diesmal einen besonderen
Gedanken mitzuteilen hatte, so lag ihm dieser obenauf, und er mußte
ihn gleich beim Eintreten loswerden.
»Es hat ihn«, sagte der Peter, mitten in der Stube stillstehend.
»Wen? Wen? General! Das tönt ziemlich kriegerisch«, sagte der Öhi.
»Den Schnee«, berichtete Peter.
»Oh! Oh! jetzt kann ich zur Großmutter hinauf!« frohlockte das Heidi,
das die Ausdrucksweise des Peter gleich verstanden hatte. »Aber
warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut
herunterschlittern«, setzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem
Heidi kam es vor, das sei nicht in der Ordnung, so draußen zu bleiben,
wenn man doch gut in die Schule gehen könnte.
»Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu spät«, gab der Peter
zurück.
»Das nennt man desertieren«, sagte der Öhi, »und Leute, die das tun,
nimmt man bei den Ohren, hörst du?«
Der Peter riß erschrocken an seiner Kappe herum, denn vor keinem
Menschen auf der Welt hatte er einen so großen Respekt wie vor dem
Almöhi.
»Und dazu ein Anführer, wie du einer bist, der muß sich doppelt
schämen, so auszureißen«, fuhr der Öhi fort. »Was meinst, wenn einmal
deine Geißen eine da und die andere dort hinausliefen und sie wollten
dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut ist für sie, was würdest
du dann machen?«
»Sie hauen«, entgegnete der Peter kundig.
»Und wenn einmal ein Bub so täte wie eine ungebärdige Geiß und er
würde ein wenig durchgehauen, was würdest du dann sagen?«
»Geschieht ihm recht«, war die Antwort.
»So, jetzt weißt was, Geißenoberst: Wenn du noch einmal auf deinem
Schlitten über die Schule hinausfährst zu einer Zeit, da du hinein
solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür
gehört.«
Jetzt verstand der Peter den Zusammenhang der Rede und daß er mit dem
Buben gemeint sei, der fortlaufe wie eine ungebärdige Geiß. Er war
ganz getroffen von dieser Ähnlichkeit und schaute ein wenig bänglich
in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, wie er es in
solchen Fällen für die Geißen gebrauchte.
Aber ermunternd sagte nun der Öhi: »Komm an den Tisch jetzt und halt
mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringst du's wieder heim,
dann findest du dein Nachtessen hier.«
Diese unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter höchst erfreulich.
Sein Gesicht verzog sich nach allen Seiten vor Vergnügen. Er gehorchte
unverzüglich und setzte sich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte
schon genug und konnte gar nicht mehr schlucken vor Freude, daß es
zur Großmutter gehen sollte. Es schob die große Kartoffel und den
Käsebraten, die noch auf seinem Teller lagen, dem Peter zu, der von
der anderen Seite vom Öhi den Teller voll bekommen hatte, so daß ein
ganzer Wall vor ihm aufgerichtet stand, aber der Mut zum Angriff
fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte sein
Mäntelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm
eingepackt, mit der Kapuze über dem Kopf, seine Reise machen. Es
stellte sich nun neben den Peter hin, und sobald dieser sein letztes
Stück eingeschoben hatte, sagte es: »Jetzt komm!« Dann machten sie
sich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter sehr viel zu erzählen vom
Schwänli und Bärli, daß sie beide am ersten Tage in dem neuen Stall
gar nicht hatten fressen wollen und daß sie die Köpfe hatten hängen
lassen den ganzen Tag und keinen Ton von sich gegeben hatten. Und es
habe den Großvater gefragt, warum sie so tun. Dann habe er gesagt:
Sie tun so wie es in Frankfurt, denn sie seien noch nie von der Alm
heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi setzte hinzu: »Du
solltest nur einmal erfahren, wie das ist, Peter.«
Die beiden waren so fast oben angekommen, ohne daß der Peter ein
einziges Wort gesagt hätte, und es war auch, als ob ihn ein tiefer
Gedanke beschäftigte, daß er nicht einmal recht zuhören konnte wie
sonst. Als sie nun bei der Hütte angekommen waren, stand der Peter
still und sagte ein wenig störrisch: »Dann will ich noch lieber in die
Schule gehen, als beim Öhi holen, was er gesagt hat.«
Das Heidi war derselben Meinung und bestärkte den Peter ganz eifrig
in seinem Vorsatz. Drinnen in der Stube saß die Mutter allein beim
Flickwerk. Sie sagte, die Großmutter müsse die Tage im Bett bleiben,
es sei zu kalt für sie, und dann sei ihr auch sonst nicht recht. Das
war dem Heidi etwas Neues; sonst saß die Großmutter immer an ihrem
Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie
lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem schmalen Bett mit der
dünnen Decke.
»Gott Lob und Dank!« sagte die Großmutter gleich, als sie das Heidi
hereinspringen hörte. Sie hatte schon den ganzen Herbst durch eine
geheime Angst im Herzen gehabt, die sie noch immer verfolgte,
besonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte
berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen sei und immer
mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die
Großmutter meinte nicht anders, als der Herr sei gekommen, das Heidi
wieder mit fortzunehmen.
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