Wenn er auch nachher schon allein abreiste,
so stieg die Angst doch immer wieder in ihr auf, es könnte irgendein
Abgesandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zurückholen.
Das Heidi sprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte sorglich:
»Bist du stark krank, Großmutter?«
»Nein, nein, Kind«, beruhigte die Alte, indem sie das Heidi liebevoll
streichelte, »der Frost ist mir nur ein wenig in die Glieder
gefahren.«
»Wirst du dann auf der Stelle gesund, wenn es wieder warm ist?« fragte
eindringlich das Heidi weiter.
»Ja, ja, will's Gott, noch vorher, daß ich wieder an mein Spinnrad
kann. Ich meinte schon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's
dann schon wieder gehen«, sagte die Großmutter in zuversichtlicher
Weise, denn sie hatte schon gemerkt, daß das Kind erschrocken war.
Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es sehr angst gewesen war,
denn krank im Bett hatte es die Großmutter noch nie getroffen. Es
betrachtete sie jetzt ein wenig verwundert, dann sagte es:
»In Frankfurt legen sie einen Schal an zum Spazierengehen. Hast
du etwa gemeint, man müsse ihn anlegen, wenn man ins Bett geht,
Großmutter?«
»Weißt du, Heidi«, entgegnete sie, »ich nehme den Schal so um im Bett,
daß ich nicht friere. Ich bin so froh darüber, die Decke ist ein wenig
dünn.«
»Aber Großmutter«, fing das Heidi wieder an, »bei deinem Kopf geht es
bergab, wo es ganz bergauf gehen sollte; so muß ein Bett nicht sein.«
»Ich weiß schon, Kind, ich spüre es auch wohl«, und die Großmutter
suchte auf dem Kissen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopfe
lag, einen besseren Platz zu gewinnen. »Siehst du, das Kissen war nie
besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen,
daß ich es ein wenig flachgelegen habe.«
»O hätt ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett
mitnehmen könne«, sagte jetzt das Heidi. »Da hatte es drei große,
dicke Kissen aufeinander, daß ich gar nicht schlafen konnte und immer
weiter herunterrutschte, bis wo es flach war, und dann mußte ich
wieder hinauf, weil man dort so schlafen muß. Könntest du so schlafen,
Großmutter?«
»Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem so gut, wenn
man so hoch liegen kann mit dem Kopf«, sagte die Großmutter, ein wenig
mühsam ihren Kopf aufrichtend, so wie um eine höhere Stelle zu finden.
»Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben
Gott für so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben.
Schon das gute Brötchen, das ich immer bekomme, und das schöne, warme
Tuch hier und daß du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch
wieder etwas lesen heute?«
Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun suchte
es ein schönes Lied nach dem andern, denn es kannte sie jetzt wohl,
und es freute sich selbst, das alles wieder zu hören, es hatte ja seit
vielen Tagen die Verse alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehört.
Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Gesichte,
das erst so bekümmert ausgesehen hatte, lag jetzt ein so freudiges
Lächeln, als wäre ihr eben ein großes Glück zuteil geworden.
Das Heidi hielt auf einmal inne.
»Großmutter, bist du schon gesund geworden?« fragte es.
»Es ist mir wohl, Heidi, es ist mir wohl geworden darüber. Lies es
noch fertig, willst du?«
Das Kind las sein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen:
»Wird mein Auge dunkler, trüber,
Dann erleuchte meinen Geist,
Daß ich fröhlich zieh' hinüber,
Wie man nach der Heimat reist«,
da wiederholte sie die Großmutter und dann noch einmal und noch
einmal, und auf ihrem Gesicht lag jetzt eine große freudige Erwartung.
Dem Heidi wurde so wohl dabei. Der ganze sonnige Tag seiner Heimkehr
stieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: »Großmutter,
ich weiß schon, wie es ist, wenn man nach der Heimat reist.« Sie
antwortete nichts, aber sie hatte die Worte wohl vernommen, und der
Ausdruck, der dem Heidi so wohl getan hatte, blieb auf ihrem Gesicht.
Nach einer Weile sagte das Kind wieder: »Jetzt wird's dunkel,
Großmutter, ich muß heim; aber ich bin so froh, daß es dir jetzt
wieder wohl ist.«
Die Großmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt sie
fest; dann sagte sie:
»Ja, ich bin auch wieder so froh; wenn ich auch noch liegen bleiben
muß, so ist es mir doch wohl. Siehst du, das weiß niemand, der es
nicht erfahren hat, wie das ist, wenn man viele, viele Tage so ganz
allein daliegt und hört kein Wort von einem andern Menschen und kann
nichts sehen, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Dann kommen so
schwere Gedanken über einen, daß man manchmal meint, es könne nie mehr
Tag werden und man könne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal
wieder die Worte hört, die du mir vorgelesen hast, so ist es, wie wenn
einem ein Licht davon aufgehen würde im Herzen, an dem man sich wieder
freuen kann.«
Jetzt ließ die Großmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr
gute Nacht gesagt, lief es in die Stube zurück und zog den Peter eilig
hinaus, denn es war unterdessen Nacht geworden. Aber draußen stand der
Mond am Himmel und schien hell auf den weißen Schnee, daß es war, als
wolle der Tag schon wieder angehen. Der Peter zog seinen Schlitten
zurecht, setzte sich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort
schossen sie die Alm hinunter, nicht anders, als wären sie zwei Vögel,
die durch die Lüfte sausen.
Als später das Heidi auf seinem schönen, hohen Heubette hinter dem
Ofen lag, da kam ihm die Großmutter wieder in den Sinn, wie sie so
schlecht lag mit dem Kopfe, und dann mußte es an alles denken, was sie
gesagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzünden.
Und es dachte: Wenn die Großmutter nur alle Tage die Worte hören
könnte, dann würde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wußte, nun
konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es
wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi so traurig vor, daß
es immer stärker nachsinnen mußte, was es nur machen könnte, daß die
Großmutter die Worte jeden Tag zu hören bekäme. Auf einmal fiel ihm
die Hilfe ein, und es war so froh darüber, daß es meinte, es könne
gar nicht erwarten, daß der Morgen wiederkomme und es seinen Plan
ausführen könne. Auf einmal setzte das Heidi sich wieder ganz gerade
auf in seinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja sein
Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte
es doch nie mehr vergessen.
Als es nun so recht von Herzen für sich und den Großvater und die
Großmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in sein weiches Heu
zurück und schlief ganz fest und friedlich bis zum hellen Morgen.
Der Winter dauert fort
Am andern Tage kam der Peter gerade zur rechten Zeit in die
Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Sack
mitgebracht, denn da ging es so zu: Wenn um Mittag die Kinder im
Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die
weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf
die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus,
um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie sich daran
vergnügen, dann fing die Schule wieder an. Hatte der Peter einmal
einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er am Schluß zum Öhi
hinüber und machte seinen Besuch beim Heidi.
Als er heute nach Schulschluß in die große Stube beim Öhi eintrat,
schoß das Heidi gleich auf ihn zu, denn gerade auf ihn hatte es
gewartet. »Peter, ich weiß etwas«, rief es ihm entgegen.
»Sag's«, gab er zurück.
»Jetzt mußt du lesen lernen«, lautete die Nachricht.
»Hab's schon getan«, war die Antwort.
»Ja, ja, Peter, so mein ich nicht«, eiferte jetzt das Heidi. »Ich
meine so, daß du es nachher kannst.
»Kann nicht«, bemerkte der Peter.
»Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht«, sagte das
Heidi sehr entschieden. »Die Großmama in Frankfurt hat schon gewußt,
daß es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht
glauben.«
Der Peter staunte über diese Nachricht.
»Ich will dich schon lesen lehren, ich weiß ganz gut, wie«, fuhr das
Heidi fort. »Du mußt es jetzt einmal erlernen, und dann mußt du alle
Tage der Großmutter ein Lied lesen oder zwei.«
»Das ist nichts«, brummte der Peter.
Dieser hartnäckige Widerstand gegen etwas, das gut und recht war
und dem Heidi so sehr am Herzen lag, brachte es in Aufregung. Mit
blitzenden Augen stellte es sich jetzt vor den Buben hin und sagte
bedrohlich:
»Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen
willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du müssest auch nach
Frankfurt, daß du allerhand lernest, und ich weiß schon, wo dort
die Buben in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir die Klara das
furchtbar große Haus gezeigt.
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