Aber dort gehen sie nicht nur, wenn sie
Buben sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz große Herren sind,
das habe ich selber gesehen. Und dann mußt du nicht meinen, daß nur
ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen
immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle
sehen ganz schwarz aus, wie wenn sie in die Kirche gingen, und haben
so hohe schwarze Hüte auf den Köpfen« - und das Heidi gab das Maß von
den Hüten an vom Boden auf.
Dem Peter fuhr ein Schauder den Rücken hinauf.
»Und dann mußt du dort hinein unter alle die Herren«, fuhr das Heidi
mit Eifer fort, »und wenn es dann an dich kommt, so kannst du gar
nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst
du nur sehen, wie dich die Herren ausspotten, das ist dann noch viel
ärger als die Tinette, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn
diese spottet.«
»So will ich«, sagte der Peter halb kläglich, halb ärgerlich.
Im Augenblick war das Heidi besänftigt. »So, das ist recht, dann
wollen wir gleich anfangen«, sagte es erfreut, und geschäftig zog es
den Peter an den Tisch hin und holte das nötige Werkzeug herbei.
In dem großen Paket der Klara hatte sich auch ein Büchlein befunden,
das dem Heidi wohlgefiel, und schon gestern nacht war es ihm in den
Sinn gekommen, das könne es gut zu dem Unterricht für den Peter
gebrauchen, denn das war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.
Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch
gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen.
Der Peter mußte den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und
dann noch einmal, denn das Heidi wollte die Sache sauber und geläufig
haben.
Endlich sagte es: »Du kannst's immer noch nicht, aber ich will dir ihn
jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weißt, wie's heißen muß,
kannst du's dann besser zusammenbuchstabieren.« Und das Heidi las:
»Geht heut das A B C noch nicht,
Kommst morgen du vors Schulgericht.«
»Ich geh nicht«, sagte der Peter störrisch.
»Wohin?« fragte das Heidi.
»Vor das Gericht«, war die Antwort.
»So mach, daß du einmal die drei Buchstaben kennst, dann mußt du ja
nicht gehen«, bewies ihm das Heidi.
Jetzt setzte der Peter noch einmal an und repetierte beharrlich die
drei Buchstaben so lange fort, bis das Heidi sagte:
»Jetzt kannst du die drei.«
Da es aber nun bemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf den
Peter ausgeübt hatte, wollte es gleich noch ein wenig vorarbeiten für
die folgenden Lehrstunden.
»Wart, ich will dir jetzt noch die anderen Sprüche lesen«, fuhr es
fort, »dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann.«
Und es begann sehr klar und verständlich zu lesen:
»D E F G muß fließend sein,
Sonst kommt ein Unglück hintendrein.
Vergessen H I K,
Das Unglück ist schon da.
Wer am L M noch stottern kann,
Zahlt eine Buß und schämt sich dann.
Es gibt etwas, und wüßtest's du,
Du lerntest schnell N O P Q.
Stehst du noch an bei R S T,
Kommt etwas nach, das tut dir weh.«
Hier hielt das Heidi inne, denn der Peter war so mäuschenstill, daß
es einmal sehen mußte, was er mache. Alle die Drohungen und geheimen
Schrecknisse hatten ihm so zugesetzt, daß er kein Glied mehr bewegte
und schreckensvoll das Heidi anstarrte.
Das rührte sogleich sein mitleidiges Herz, und tröstend sagte es: »Du
mußt dich nicht fürchten, Peter; komm du jetzt nur jeden Abend zu mir,
und wenn du dann lernst wie heut, so kennst du allemal zuletzt die
Buchstaben, und dann kommt ja das andere nicht. Aber nun mußt du alle
Tage kommen, nicht so, wie du in die Schule gehst; wenn es schon
schneit, es tut dir ja nichts.«
Der Peter versprach, so zu tun, denn der erschreckende Eindruck hatte
ihn ganz zahm und willig gemacht. Jetzt trat er seinen Heimweg an.
Der Peter befolgte Heidis Vorschrift pünktlich, und jeden Abend
wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert und der Spruch
beherzigt.
Oft saß auch der Großvater in der Stube und hörte dem Exerzitium zu,
indem er vergnüglich sein Pfeifchen rauchte, während es öfter in
seinen Mundwinkeln zuckte, so, als ob ihn von Zeit zu Zeit eine große
Heiterkeit übernehmen wollte.
Nach der großen Anstrengung wurde der Peter dann meistens
aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was
ihn alsbald für die ausgestandene Angst, die der heutige Spruch mit
sich gebracht hatte, reichlich entschädigte.
So gingen die Wintertage dahin. Der Peter erschien regelmäßig und
machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben.
Mit den Sprüchen hatte er aber täglich zu fechten. Man war jetzt beim
U angelangt. Als das Heidi den Spruch las:
»Wer noch das U in V verdreht,
Kommt dahin, wo er nicht gern geht«,
da knurrte der Peter: »Ja, wenn ich ginge!« Aber er lernte doch
tüchtig zu, so, als stehe er unter dem Eindruck, es könnte ihn doch
heimlich einer beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wohin er nicht
gern ginge.
Am folgenden Abend las das Heidi:
»Ist dir das W noch nicht bekannt,
Schau nach dem Rütlein an der Wand.«
Da guckte der Peter hin und sagte höhnisch: »Hat keins.«
»Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kasten hat?« fragte das
Heidi. »Einen Stecken, fast so dick wie mein Arm, und wenn man ihn
herausnimmt, so kann man nur sagen: >Schau nach dem Stecken an der
Wand!<«
Der Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich
über sein W und suchte es zu erfassen.
Am anderen Tage hieß es:
»Willst du noch das X vergessen,
Kriegst du heute nix zu essen.«
Da schaute der Peter forschend zu dem Schrank hinüber, wo das Brot
und der Käse darinlagen, und sagte ärgerlich: »Ich habe ja gar nicht
gesagt, daß ich das X vergessen wolle.«
»Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann können wir
auch gleich noch einen lernen«, schlug das Heidi vor, »dann hast du
morgen nur noch einen einzigen Buchstaben.«
Der Peter war nicht einverstanden. Aber schon las das Heidi:
»Machst du noch Halt beim Y,
Kommst du mit Hohn und Spott davon.«
Da stiegen vor Peters Augen alle die Herren in Frankfurt auf mit
den hohen schwarzen Hüten auf den Köpfen und Hohn und Spott in den
Gesichtern. Augenblicklich warf er sich auf das Ypsilon und ließ es
nicht wieder los, bis er es so gut kannte, daß er die Augen zutun
konnte und doch noch wußte, wie es aussah.
Am Tag darauf kam der Peter schon ein wenig hoch beim Heidi an, denn
da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm
das Heidi gleich den Spruch las:
»Wer zögernd noch beim Z bleibt stehn,
Muß zu den Hottentotten gehn!«,
da höhnte der Peter: »Ja, wenn kein Mensch weiß, wo die sind!«
»Freilich, Peter, das weiß der Großvater schon«, versicherte das
Heidi. »Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist
nur beim Herrn Pfarrer drüben.« Und schon war das Heidi aufgesprungen
und wollte zur Tür hinaus.
»Wart«, schrie jetzt der Peter in voller Angst, denn schon sah er in
seiner Einbildung den Almöhi mitsamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und
wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten übersenden
würden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewußt, wie das Z hieß.
Sein Angstgeschrei ließ das Heidi stillstehen.
»Was hast du denn?« fragte es verwundert.
»Nichts! Komm zurück! Ich will lernen«, stieß der Peter mit
Unterbrechungen hervor. Aber das Heidi hätte jetzt selbst gern gewußt,
wo die Hottentotten seien, und es wollte durchaus den Großvater
fragen. Der Peter schrie ihm aber so verzweifelt nach, daß es nachgab
und zurückkam. Nun mußte er aber auch etwas tun dafür. Nicht nur wurde
das Z so manchmal wiederholt, daß der Buchstabe für alle Zeit in
seinem Gedächtnis festsitzen mußte, sondern das Heidi ging gleich noch
zum Syllabieren über, und an dem Abend lernte der Peter so viel, daß
er um einen ganzen Ruck vorwärts kam. So ging es weiter Tag für Tag.
Der Schnee war wieder weich geworden, und darüberhin schneite es
neuerdings einen Tag um den andern, so daß das Heidi wohl drei Wochen
lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Um so eifriger war es in
seiner Arbeit an dem Peter, daß er es ersetzen könne beim Liederlesen.
So kam eines Abends der Peter heim vom Heidi, trat in die Stube ein
und sagte:
»Ich kann's!«
»Was kannst du, Peterli?« fragte erwartungsvoll die Mutter.
»Das Lesen«, antwortete er.
»Ist auch das möglich! Hast du's gehört, Großmutter?« rief die
Brigitte aus.
Die Großmutter hatte es gehört und mußte sich auch sehr verwundern,
wie das zugegangen sei.
»Ich muß jetzt ein Lied lesen, das Heidi hat's gesagt«, berichtete
der Peter weiter. Die Mutter holte hurtig das Buch herunter, und die
Großmutter freute sich, sie hatte so lange kein gutes Wort gehört. Der
Peter setzte sich an den Tisch hin und begann zu lesen. Seine Mutter
saß aufhorchend neben ihm; nach jedem Verse mußte sie mit Bewunderung
sagen: »Wer hätte es auch denken können!«
Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Verse nach dem andern,
sie sagte aber nichts dazu.
Am Tage nach diesem Ereignis traf es sich, daß in der Schule in Peters
Klasse eine Leseübung stattfand. Als die Reihe an den Peter kommen
sollte, sagte der Lehrer:
»Peter, muß man dich wieder übergehen, wie immer, oder willst du
einmal wieder - ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen,
an einer Linie herumzustottern?«
Der Peter fing an und las hintereinander drei Linien, ohne abzusetzen.
Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf
den Peter, so, als habe er desgleichen noch nie gesehen. Endlich
sprach er: »Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit
unbeschreiblicher Geduld an dir gearbeitet habe, warst du nicht
imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Nun ich,
obwohl ungern, die Arbeit an dir als nutzlos aufgegeben habe,
geschieht es, daß du erscheinst und hast nicht nur das Buchstabieren,
sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher können
zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?«
»Vom Heidi«, antwortete dieser.
Höchst verwundert schaute der Lehrer nach dem Heidi hin, das ganz
harmlos auf seiner Bank saß, so daß nichts Besonderes an ihm zu sehen
war.
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