Am Morgen hatte er seinen Käse und sein Stück Brot darauf
gepackt und war ausgezogen. Den Öhi und das Heidi hatte er wohl
gesehen, als er ihre Geißen abholte, aber erst als er um Mittag mit
Brot und Käse zu Ende war und noch die Krumen herausholen wollte, war
der Brief wieder in seine Hand gekommen.
Das Heidi las aufmerksam seine Adresse ab, dann sprang es zum
Großvater in den Schopf zurück und streckte ihm in hoher Freude den
Brief entgegen: »Von Frankfurt! Von der Klara! Willst du ihn gleich
hören, Großvater?«
Das wollte dieser schon gern, und auch der Peter, der dem Heidi
gefolgt war, schickte sich zum Zuhören an. Er stemmte sich mit dem
Rücken gegen den Türpfosten an, um einen festen Halt zu haben, denn
so war es leichter, dem Heidi nachzukommen, wie es nun seinen Brief
herunterlas:
Liebes Heidi!
Wir haben schon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir
abreisen, sobald Papa auch abreist, aber nicht mit uns, er muß zuerst
noch nach Paris reisen. Alle Tage kommt der Herr Doktor und ruft
schon unter der Tür: »Fort! Fort! Auf die Alp!« Er kann es gar nicht
erwarten, daß wir gehen. Du solltest nur wissen, wie gern er selbst
auf der Alp war! Den ganzen Winter ist er fast jeden Tag zu uns
gekommen; dann sagte er immer, er komme zu mir, er müsse mir wieder
erzählen! Dann setzte er sich zu mir hin und erzählte von allen Tagen,
die er mit Dir und dem Großvater auf der Alp zugebracht hat, und von
den Bergen und den Blumen und von der Stille so hoch oben über allen
Dörfern und Straßen und von der frischen, herrlichen Luft; und er
sagte oft: »Dort oben müssen alle Menschen wieder gesund werden.« Er
ist auch selbst wieder so anders geworden, als er eine Zeitlang war,
ganz jung und fröhlich sieht er wieder aus. Oh, wie freu ich mich, das
alles zu sehen und bei Dir auf der Alp zu sein und auch den Peter und
die Geißen kennenzulernen! Erst muß ich in Ragaz etwa sechs Wochen
lang eine Kur machen, das hat der Herr Doktor befohlen, und dann
sollen wir im Dörfli wohnen nachher, und ich soll dann an schönen
Tagen auf die Alp hinaufgefahren werden in meinem Stuhl und den Tag
über bei Dir bleiben. Die Großmama kommt mit und bleibt bei mir;
sie freut sich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk, Fräulein
Rottenmeier will nicht mit. Fast jeden Tag sagt die Großmama einmal:
»Wie ist's mit der Schweizerreise, werte Rottenmeier? Genieren Sie
sich nicht, wenn Sie Lust haben mitzukommen.« Aber sie dankt immer
furchtbar höflich und sagt, sie wolle nicht unbescheiden sein.
Aber ich weiß schon, woran sie denkt: Der Sebastian hat eine so
erschreckliche Beschreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem
Begleit nach Hause kam, wie furchtbare Felsen dort herunterstarren und
man überall in Klüfte und Abgründe niederstürzen könne und daß es so
steil hinaufgehe, daß man auf jedem Tritt befürchten müsse, wieder
rücklings herunterzukommen, und daß wohl Ziegen, aber keine Menschen
ohne Lebensgefahr da hinaufklettern können. Sie hat sehr geschaudert
vor dieser Beschreibung, und seither schwärmt sie nicht mehr für
Schweizerreisen wie früher. Der Schrecken ist auch in die Tinette
gefahren, sie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Großmama und
ich; nur Sebastian muß uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er
wieder heimkehren.
Ich kann es fast nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann.
Lebe wohl, liebes Heidi, die Großmama läßt Dich tausendmal grüßen.
Deine treue Freundin Klara.
Als der Peter diese Worte vernommen hatte, sprang er von dem
Türpfosten weg und hieb mit seiner Rute nach rechts und links so
rücksichtslos und wütend drein, daß die Geißen alle im höchsten
Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in so
maßlosen Sprüngen, wie sie noch selten gemacht hatten. Hinter ihnen
her stürmte der Peter und hieb mit seiner Rute in die Luft hinein,
als habe er an einem unsichtbaren Feinde einen unerhörten Grimm
auszulassen. Dieser Feind war die Aussicht auf die Ankunft der Gäste
aus Frankfurt, welche den Peter so sehr erbittert hatte.
Das Heidi war so voller Glück und Freude, daß es durchaus am andern
Tage der Großmutter einen Besuch machen und ihr alles erzählen mußte,
wer nun von Frankfurt kommen und besonders auch, wer nicht kommen
werde. Das mußte für die Großmutter ja von der größten Wichtigkeit
sein, denn sie kannte die Personen alle so genau und lebte mit dem
Heidi alles, was zu seinem Leben gehörte, immerfort mit der tiefsten
Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag,
denn jetzt konnte es seine Besuche schon wieder allein unternehmen:
Die Sonne schien ja wieder hell und blieb lange am Himmel stehen,
und über den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen,
während der lustige Maiwind hinterhersauste und das Heidi noch ein
wenig schneller hinunterjagte. Die Großmutter lag nicht mehr zu Bett.
Sie saß wieder in ihrer Ecke und spann. Es lag aber ein Ausdruck auf
ihrem Gesicht, als habe sie es mit schweren Gedanken zu tun. Das war
so seit gestern abend, und die ganze Nacht durch hatten diese Gedanken
sie verfolgt und nicht schlafen lassen. Der Peter war in seinem großen
Grimm heimgekommen, und sie hatte aus seinen abgebrochenen Ausrufungen
entnehmen können, daß eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der
Almhütte hinaufkommen werde. Was dann weiter geschehen sollte, wußte
er nicht, aber die Großmutter mußte weiterdenken, und das waren gerade
die Gedanken, die sie ängstigten und ihr den Schlaf genommen hatten.
Jetzt sprang das Heidi herein und gerade auf die Großmutter zu, setzte
sich auf sein Schemelchen, das immer dastand, und erzählte ihr mit
einem solchen Eifer alles, was es wußte, daß es selbst noch immer mehr
davon erfüllt wurde. Aber auf einmal hörte es mitten in seinem Satze
auf und fragte besorgt:
»Was hast du, Großmutter, freut dich alles gar kein bißchen?«
»Doch, doch, Heidi, es freut mich schon für dich, weil du eine so
große Freude daran haben kannst«, antwortete sie und suchte ein wenig
fröhlich auszusehen.
»Aber Großmutter, ich kann ganz gut sehen, daß es dir angst ist.
Meinst du etwa, Fräulein Rottenmeier komme doch noch mit?« fragte das
Heidi, selber etwas ängstlich.
»Nein, nein! Es ist nichts, es ist nichts!« beruhigte die Großmutter.
»Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, daß ich recht spüren kann, daß
du noch da bist. Es wird ja doch zu deinem Besten sein, wenn ich es
auch fast nicht überleben kann.«
»Ich will nichts von dem Besten, wenn du es fast nicht überleben
kannst, Großmutter«, sagte das Heidi so bestimmt, daß dieser mit
einemmal eine neue Befürchtung aufstieg. Sie mußte ja annehmen, daß
die Leute aus Frankfurt kämen, das Heidi wiederzuholen, denn da es
nun wieder gesund war, konnte es ja nicht anders sein, als daß sie es
wiederhaben wollten. Das war die große Angst der Großmutter. Aber sie
fühlte jetzt, daß sie es vor dem Heidi nicht merken lassen sollte.
Es war ja so mitleidig mit ihr, und da könnte es sich vielleicht
widersetzen und nicht gehen wollen, und das durfte nicht sein. Sie
suchte nach einer Hilfe, aber nicht lange, denn sie kannte nur eine.
»Ich weiß etwas, Heidi«, sagte sie nun, »das macht mir wohl und bringt
mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im
Anfang heißt: >Gott will's machen.<«
Das Heidi wußte jetzt so gut Bescheid in dem alten Liederbuch, daß
es auf der Stelle fand, was die Großmutter begehrte, und es las mit
hellem Ton:
»Gott will's machen,
Daß die Sachen
Gehen, wie es heilsam ist.
Laß die Wellen
Immer schwellen,
Denk, wie du so sicher bist!«
»Ja, ja, das ist's grad, was ich hören mußte«, sagte die Großmutter
erleichtert, und der Ausdruck der Bekümmernis verschwand aus ihrem
Gesichte. Das Heidi schaute sie nachdenklich an, dann sagte es:
»Gelt, Großmutter, >heilsam< heißt, wenn alles heilt, daß es einem
wieder ganz wohl wird?«
»Ja, ja, so wird's sein«, nickte bejahend die Großmutter, »und weil
der liebe Gott es so machen will, so kann man ja sicher sein, wie's
auch kommt. Lies es noch einmal, Heidi, daß wir's so recht behalten
können und nicht wieder vergessen.«
Das Heidi las seinen Vers gleich noch einmal und dann noch ein
paarmal, denn die Sicherheit gefiel ihm auch so gut.
Als so der Abend herangekommen war und das Heidi wieder den Berg
hinaufwanderte, da kam über ihm ein Sternlein nach dem andern heraus
und funkelte und leuchtete zu ihm herunter, und es war gerade, als
wollte jedes wieder neu ihm eine große Freude ins Herz hineinstrahlen,
und alle Augenblicke mußte das Heidi wieder stille stehen und
hinaufschauen, und wie sie alle ringsum am Himmel in immer hellerer
Freude herunterblickten, da mußte es ganz laut hinaufrufen: »Ja, ich
weiß schon, weil der liebe Gott alles so gut weiß, wie es heilsam
ist, kann man eine solche Freude haben und ganz sicher sein!« Und die
Sternlein alle schimmerten und glänzten und winkten dem Heidi zu mit
ihren Augen fort und fort, bis es oben bei der Hütte angekommen war,
wo der Großvater stand und auch zu den Sternen hinaufschaute, denn so
schön hatten sie lange nicht mehr heruntergestrahlt.
Nicht nur die Nächte, auch die Tage dieses Maimonats waren so hell
und klar wie seit vielen Jahren nicht mehr, und öfters schaute der
Großvater am Morgen mit Erstaunen zu, wie die Sonne mit derselben
Pracht am wolkenlosen Himmel wieder aufstieg, wie sie niedergegangen
war, und er mußte wiederholt sagen: »Das ist ein apartes Sonnenjahr;
das gibt besondere Kraft in die Kräuter.
1 comment