Paß auf, Anführer, daß deine
Springer nicht zu übermütig werden vom guten Futter!«
Dann schwang der Peter ganz kühn seine Rute in der Luft, und auf
seinem Gesicht stand deutlich die Antwort geschrieben: »Mit denen will
ich's schon aufnehmen.«
So verfloß der grünende Mai, und es kam der Juni mit seiner noch
wärmeren Sonne und den langen, langen lichten Tagen, die alle Blümlein
auf der ganzen Alp herauslockten, daß sie glänzten und glühten
ringsum und die ganze Luft weit umher mit ihrem süßen Duft erfüllten.
Schon ging auch dieser Monat seinem Ende entgegen, als das Heidi
eines Morgens aus der Hütte herausgesprungen kam, wo es seine
Morgengeschäfte schon vollendet hatte. Es wollte schnell einmal unter
die Tannen hinaus und dann ein wenig weiter hinauf, um zu sehen, ob
der ganze große Busch von dem Tausendgüldenkraut offenstehe, denn die
Blümchen waren so entzückend schön in der durchscheinenden Sonne. Aber
als das Heidi um die Hütte herumrennen wollte, schrie es auf einmal
aus allen Kräften so gewaltig auf, daß der Öhi aus dem Schopf
heraustrat, denn das war etwas Ungewöhnliches.
»Großvater! Großvater!« rief das Kind wie außer sich. »Komm hierher!
Komm hierher! Sieh! Sieh!«
Der Großvater erschien auf den Ruf, und sein Blick folgte dem
ausgestreckten Arm des aufgeregten Kindes.
Die Alm herauf schlängelte sich ein seltsamer Zug, wie noch nie einer
hier gesehen worden war. Zuerst kamen zwei Männer mit einem offenen
Tragsessel, darauf saß ein junges Mädchen, in viele Tücher eingehüllt.
Dann kam ein Pferd, darauf saß eine stattliche Dame, die sehr lebhaft
nach allen Seiten blickte und sich eifrig mit dem jungen Führer
unterhielt, der ihr zur Seite ging. Dann kam ein leerer Rollstuhl,
von einem andern jungen Burschen gestoßen, denn die Kranke, die
hineingehörte, wurde den steilen Berg hinan auf dem Tragsessel
sicherer transportiert. Zuletzt kam ein Träger, der hatte auf sein
Reff so viele Decken, Tücher und Pelze übereinandergehäuft, daß sie
oben noch hoch über seinen Kopf hinausragten.
»Sie sind's! Sie sind's!« schrie das Heidi und hüpfte hoch auf vor
Freude. Sie waren es wirklich. Nun kamen sie näher und näher, und nun
waren sie da. Die Träger setzten ihren Sessel auf die Erde, das Heidi
sprang herzu, und die beiden Kinder begrüßten sich mit ungeheurer
Freude. Jetzt war auch die Großmama oben und stieg von ihrem
Pferde herunter. Das Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit großer
Zärtlichkeit begrüßt. Dann wandte sich die Großmama zum Almöhi um, der
sich genaht hatte, um sie zu bewillkommnen. Da war gar keine Steifheit
in der Begrüßung, denn sie kannte ihn und er sie so gut, als hätten
sie schon lange Zeit miteinander verkehrt.
Gleich nach den ersten Worten der Begrüßung sagte auch die Großmama
mit großer Lebhaftigkeit: »Mein lieber Öhi, was haben Sie für einen
Herrensitz! Wer hätte das gedacht! Mancher König könnte Sie darum
beneiden! Wie sieht auch mein Heidi aus! Wie ein Monatsröschen!« fuhr
sie fort, indem sie das Kind an sich zog und ihm die frischen Backen
streichelte. »Was ist das für eine Herrlichkeit um und um! Was sagst
du, Klärchen, mein Kind, was sagst du!«
Klara schaute in völligem Entzücken um sich. So etwas hatte sie ja in
ihrem ganzen Leben nicht gekannt, nicht geahnt.
»Oh, wie schön ist's da! Oh, wie schön ist's da!« rief sie einmal ums
andere aus. »So hab ich mir's nicht gedacht. O Großmama, hier möcht
ich bleiben!«
Der Öhi hatte derweilen den Rollstuhl herbeigerückt und einige der
Tücher vom Reff heruntergenommen und hineingebettet. Jetzt trat er an
den Tragsessel heran.
»Wenn wir das Töchterchen nun in den gewohnten Stuhl setzten, so
wäre es besser daran, der Reisesessel ist ein wenig hart«, sagte er,
wartete aber nicht darauf, ob da jemand Hand anlegen werde, sondern
hob sofort die kranke Klara mit seinen starken Armen sachte aus dem
Strohsessel und setzte sie mit der größten Sorgfalt auf den weichen
Sitz hin. Dann legte er die Tücher über die Knie zurecht und bettete
ihr die Füße so bequem auf die Polster, als hätte der Öhi sein Leben
lang nichts getan, als Menschen mit kranken Gliedern gepflegt. Die
Großmama hatte im höchsten Erstaunen zugeschaut.
»Mein lieber Öhi«, brach sie jetzt aus, »wenn ich wüßte, wo Sie die
Krankenpflege erlernt haben, noch heute schickte ich alle Wärterinnen,
die ich kenne, dahin, daß sie dasselbe tun. Wie ist denn so etwas
möglich?«
Der Öhi lächelte ein wenig. »Es kommt mehr vom Probieren als vom
Studieren«, entgegnete er, aber auf seinem Gesichte lag trotz des
Lächelns ein Zug der Traurigkeit. Vor seinen Augen war aus längst
vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgestiegen, der
so in einen Stuhl gebettet dasaß und so verstümmelt war, daß er kaum
ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war sein Hauptmann, den er
in Sizilien nach dem heißen Gefechte so an der Erde gefunden und
weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um sich
litt und nicht mehr von sich gelassen hatte, bis seine schweren Leiden
zu Ende waren. Der Öhi sah seinen Kranken wieder vor sich; es war ihm
nicht anders, als ob es jetzt seine Sache sei, die kranke Klara zu
pflegen und ihr alle die erleichternden Dienstleistungen zu erweisen,
die er so wohl kannte.
Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos über der Hütte und über
den Tannen und weit über die hohen Felsen weg, die grau schimmernd
hineinragten. Klara konnte sich gar nicht genug umschauen, sie war
ganz voller Entzücken über alles, was sie sah.
»O Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen könnte, hier rund um die
Hütte und unter die Tannen!« rief sie sehnsüchtig aus. »Wenn ich doch
alles mit dir ansehen könnte, was ich schon so lange kenne und doch
noch nie gesehen habe!«
Jetzt machte das Heidi eine große Anstrengung, und richtig, es gelang,
der Stuhl rollte ganz schön über den trockenen Grasboden hin bis unter
die Tannen. Hier wurde haltgemacht. So etwas hatte ja Klara wieder
in ihrem Leben nie gesehen, wie die hohen, alten Tannen waren, deren
lange, breite Äste bis auf den Boden herabwuchsen und da immer größer
und dicker wurden.
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