Auch die Großmama, die den Kindern gefolgt war,
stand in hoher Bewunderung da. Sie wußte nicht, was das schönste an
den uralten Bäumen war, ob die vollen, rauschenden Wipfel hoch oben im
Blau oder die geraden, festen Säulenstämme, die mit ihren gewaltigen
Ästen von so vielen, vielen Jahren erzählten, die sie schon da oben
gestanden und auf das Tal niedergeschaut hatten, wo die Menschen kamen
und gingen und immer wieder alles anders wurde, und sie waren immer
dieselben geblieben.
Unterdessen hatte das Heidi den Rollstuhl vor den Geißenstall
hingeschoben und hatte da die kleine Tür weit aufgerissen, damit
Klara auch alles recht sehen könne. Da war nun freilich für diesmal
nicht sehr viel zu sehen, da die Bewohner nicht daheim waren. Ganz
bedauerlich rief Klara zurück:
»O Großmama, wenn ich doch nur Schwänli und Bärli noch erwarten könnte
und alle die anderen Geißen und den Peter! Die kann ich ja alle gar
nicht sehen, wenn wir dann immer so früh fort müssen, wie du gesagt
hast; das ist so schade!«
»Liebes Kind, jetzt erfreuen wir uns an all dem Schönen, das da ist,
und denken nicht daran, was noch fehlen könnte«, berichtigte die
Großmama, dem Stuhle folgend, der nun wieder weitergeschoben wurde.
»Oh, die Blumen!« schrie Klara wieder auf. »Ganze Büsche so feine,
rote Blümchen und alle die nickenden Blauglöckchen! Oh, wenn ich doch
heraus könnte und sie holen!«
Das Heidi rannte augenblicklich hin und brachte einen großen Strauß
zurück.
»Aber das ist noch gar nichts, Klara«, sagte es, die Blumen auf ihren
Schoß legend. »Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommst, dann
wirst du erst etwas sehen! Auf einem Platz zusammen so viele, viele
Büsche von dem roten Tausendgüldenkraut und noch viel, viel mehr blaue
Glockenblümchen als hier und so viele tausend von den hellen, gelben
Weideröschen, daß es ist wie lauter Gold, das am Boden glänzt. Und
dann sind erst noch die mit den großen Blättern, der Großvater sagt,
sie heißen Sonnenaugen, und dann sind noch die braunen, weißt du, mit
den runden Köpfchen, die riechen so gut, und da ist es so schön! Wenn
man da sitzt, dann kann man gar nicht mehr aufstehen, so schön ist
es!«
Heidis Augen funkelten vor Verlangen wiederzusehen, was es beschrieb,
und Klara war wie angezündet davon, und aus ihren sanften blauen Augen
leuchtete ein völliger Widerschein von Heidis feurigem Verlangen auf.
»O Großmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubst du, ich kann so hoch
hinauf?« fragte sie sehnsüchtig. »Oh, wenn ich nur gehen könnte,
Heidi, und so mit dir auf der Alp herumsteigen, überallhin!«
»Ich will dich schon stoßen«, beruhigte sie das Heidi und nahm nun zum
Zeichen, wie leicht das gehe, einen solchen Anlauf um die Ecke herum,
daß der Stuhl fast den Berg hinuntergeflogen wäre. Da stand aber der
Großvater in der Nähe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in
seinem Lauf.
Während der Besuch unter den Tannen stattgefunden hatte, war der
Großvater nicht müßig gewesen. Bei der Bank vor der Hütte stand jetzt
der Tisch und die nötigen Stühle, und alles lag schon bereit, damit
hier das schöne Mittagsmahl eingenommen werden konnte, das noch in
der Hütte drinnen im Kessel dampfte und an der großen Gabel über
den Gluten schmorte. Es währte aber gar nicht lange, so hatte der
Großvater alles auf den Tisch gesetzt, und fröhlich saß nun die ganze
Gesellschaft beim Mahle.
Die Großmama war in hellem Entzücken über diesen Speisesaal, von
dem aus man weit, weit hinab ins Tal und über alle Berge weg in den
blauen Himmel hinein schauen konnte. Ein milder Wind fächelte den
Tischgenossen liebliche Kühlung zu und säuselte drüben in den Tannen
so anmutig, als wäre er eine eigens zum Feste bestellte Tafelmusik.
»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Es ist eine wahre
Herrlichkeit!« rief die Großmama wieder und wieder aus. »Aber was seh
ich«, setzte sie jetzt in höchster Bewunderung hinzu, »ich glaube gar,
du bist an einem zweiten Stück Käsebraten angekommen, Klärchen?«
Wirklich lag das zweite golden glänzende Stück auf Klaras
Brotschnitte.
»Oh, das schmeckt so gut, Großmama, besser als die ganze Tafel in
Ragaz«, versicherte Klara und biß mit großem Appetit in die gewürzige
Speise hinein.
»Nur zu! Nur zu!« sagte der Almöhi wohlgefällig. »Das ist unser
Bergwind, der hilft nach, wo die Küche zurückbleibt.«
So nahm das fröhliche Mahl seinen Verlauf. Die Großmama und der Almöhi
verstanden sich ausnehmend wohl, und ihr Gespräch war immer lebhafter
geworden. Sie stimmten in allerhand Meinungen über Menschen und Dinge
und den Verlauf der Welt so gut überein, daß es war, als hätten die
beiden schon jahrelang in einem freundschaftlichen Verkehr gestanden.
So ging eine gute Zeit dahin, und auf einmal schaute die Großmama
gegen Abend hin und sagte:
»Wir müssen uns bald rüsten, Klärchen, die Sonne ist schon weit
vorgerückt; die Leute müssen bald wiederkommen mit Pferd und Sessel.«
Aber auf das eben noch so fröhliche Gesicht der Klara kam ein ganz
trauriger Ausdruck, und sie bat eindringlich: »Oh, nur noch eine
Stunde, Großmama, oder zwei! Wir haben ja die Hütte noch gar nicht
gesehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag
nur noch zehn Stunden hätte!«
»Das ist nun nicht gut möglich«, meinte die Großmama, aber die Hütte
wollte sie auch gern noch ansehen. Man brach also gleich vom Tische
auf, und der Öhi lenkte den Stuhl mit fester Hand der Türe zu. Aber
hier ging es nicht weiter, der Stuhl war viel zu breit, um durch die
Öffnung eingehen zu können. Der Öhi besann sich nicht lange. Er hob
Klara heraus und trug sie auf seinem sicheren Arm in die Hütte hinein.
Hier lief die Großmama hin und her und besah sich genau die ganze
Einrichtung und hatte ihren großen Spaß an der ganzen Häuslichkeit,
die so hübsch aufgeräumt und wohlgeordnet aussah. »Das ist ja wohl
dein Bett dort auf der Höhe, Heidi, nicht wahr?« fragte sie jetzt und
stieg gleich unerschrocken das Leiterchen hinauf zum Heuboden. »Oh,
wie das hübsch duftet, das muß ein gesundes Schlafgemach sein!« Und
die Großmama ging zu dem Loche hin und guckte durch, und schon stieg
auch der Großvater mit der Klara auf dem Arm nach, und hinterdrein
hüpfte das Heidi herauf.
Jetzt standen sie alle um Heidis schön aufgerüstetes Heubett herum,
und ganz nachdenklich schaute die Großmama darauf hin und zog von Zeit
zu Zeit in langen Atemzügen den würzigen Duft des frischen Heues mit
Behagen ein. Klara war von Heidis Schlafstätte völlig hingerissen.
»O Heidi, wie lustig hast du's doch! Vom Bett aus siehst du gerade in
den Himmel hinein und hast einen so schönen Geruch um dich und hörst
die Tannen rauschen draußen. Oh, so lustig und kurzweilig hab ich noch
gar kein Schlafzimmer gesehen!«
Der Öhi schaute jetzt zu der Großmama hinüber.
»Ich hätte so meine Gedanken«, sagte er, »wenn die Frau Großmama mir
glauben wollte und ihr die Sache nicht widerstrebte. Ich meine, wenn
wir das Töchterchen ein wenig hier oben behielten, so könnte es zu
neuen Kräften kommen. Es sind da so allerhand Tücher und Decken
mitgekommen, aus denen bereiten wir hier ein ganz apart weiches Bett,
und um die Pflege des Töchterchens müßte die Frau Großmama keine Sorge
haben, die übernehme ich.«
Klara und Heidi jauchzten miteinander auf wie zwei freigelassene
Vögel, und über das Gesicht der Großmama kam ein ganzer Sonnenschein.
»Mein lieber Öhi, Sie sind ein prächtiger Mann!« brach sie aus. »Was
meinen Sie, was ich eben jetzt dachte? Ich sagte im stillen: Müßte
nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind ganz besonders stärken? Aber
die Pflege! Die Sorge! Die Unbequemlichkeit für den Wirt! Und Sie
kommen und sprechen es aus, so als wäre da gar nichts dabei. Ich
muß Ihnen danken, mein lieber Öhi, ich muß Ihnen von ganzem Herzen
danken!« Und die Großmama schüttelte dem Öhi die Hand ein Mal ums
andere und immer wieder, und der Öhi schüttelte auch die ihrige mit
einem ganz erfreuten Gesicht.
Sofort ging der Öhi zur Tat über.
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