Als der Distelfink die drei
Vermißten in dem Blumenfelde entdeckte, stieß er ein überlautes
Meckern aus, und auf der Stelle stimmte der ganze Chor ein, und
fortmeckernd kamen sie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er
mußte sich aber stark die Augen reiben, denn es hatte ihm geträumt,
der Rollstuhl stehe wieder schön rot gepolstert und unversehrt vor der
Hütte, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Nägel um das Polster
herum in der Sonne blitzen gesehen, aber jetzt entdeckte er, daß es
nur die gelben Glitzerblümchen auf dem Boden gewesen waren. Jetzt kam
dem Peter die Angst zurück, die er beim Anblick des unbeschädigten
Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi versprochen hatte,
nichts zu machen, so war doch nun die Furcht im Peter lebendig
geworden, die Sache könnte auch sonst noch auskommen. Er ließ sich
jetzt ganz zahm und willig zum Führer machen und tat alles perfekt so,
wie das Heidi es haben wollte.
Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte
das Heidi hurtig seinen vollen Speisesack herbei und schickte sich an,
sein Versprechen zu lösen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte seine
Drohung sich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute
Sachen der Großvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es
vorausgesehen, daß dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als
er dann aber so störrig war, wollte es ihm zu verstehen geben, daß er
nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte
das Heidi Stück für Stück aus seinem Sack heraus und machte drei
Häufchen davon, die wurden so hoch, daß es voller Befriedigung vor
sich hinsagte: »Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben.«
Jetzt trug es jedem sein Häufchen zu, und mit dem seinigen setzte es
sich neben Klara hin, und die Kinder ließen sich's wohl schmecken nach
der großen Anstrengung.
Es ging aber, wie das Heidi vorausgesehen hatte: Als sie beide völlig
satt waren, blieb noch so viel übrig, daß dem Peter noch einmal ein
Häufchen, so groß wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er aß
still und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er
vollzog sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag
etwas auf dem Magen, das nagte und würgte ihn und klemmte ihm jeden
Bissen zusammen.
Die Kinder waren so spät zu ihrer Mahlzeit gekommen, daß schon gleich
nachher der Großvater zu sehen war, der die Alm hinanstieg, um sie
abzuholen. Das Heidi stürzte ihm entgegen; es mußte ihm zuerst
sagen, was sich ereignet hatte. Es war indes so erregt von seiner
beglückenden Nachricht, daß es die Worte fast nicht fand, sie dem
Großvater mitzuteilen. Er verstand aber sogleich, was das Kind
berichtete, und eine helle Freude kam auf sein Gesicht. Er
beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er
fröhlich lächelnd:
»So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!«
Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaßte sie mit dem linken Arm und
hielt ihr seine Rechte als starke Stütze für ihre Hand hin, und Klara
marschierte, mit der festen Wand im Rücken, noch viel sicherer und
unerschrockener dahin, als sie vorher getan hatte.
Das Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater sah aus, als
sei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit
einemmal auf seinen Arm und sagte: »Wir wollen's nicht übertreiben, es
ist auch Zeit zur Heimkehr«, und er machte sich gleich auf den Weg,
denn er wußte, daß nun der Anstrengungen für heute genug waren und
Klara der Ruhe bedurfte.
Als der Peter spät am Abend mit seinen Geißen nach dem Dörfli herunter
kam, stand eine Menge von Leuten an einem Knäuel zusammen, und eins
stieß das andere ein wenig weg, um besser sehen zu können, was
mittendrin am Boden lag. Das mußte der Peter auch sehen; er drückte
und drängte rechts und links und bohrte sich hinein.
Da, jetzt sah er's.
Auf dem Grase lag das Mittelstück vom Rollstuhl, und noch ein Teil des
Rückens hing daran. Das rote Polster und die glänzenden Nägel zeugten
noch davon, wie prächtig der Stuhl in seiner Vollkommenheit ausgesehen
hatte.
»Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen«, sagte der Bäcker, der neben
dem Peter stand; »wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit
jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen ist.«
»Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi selbst
gesagt«, bemerkte die Barbel, die nicht genug das schöne rote Zeug
bewundern konnte.
»Es ist gut, daß es kein anderer ist, der's getan hat«, sagte der
Bäcker wieder; »dem ging's schön! Wenn es der Herr in Frankfurt
vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich
für mich bin froh, daß ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war;
der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen
wurde.«
Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber der Peter hatte
genug gehört. Er kroch ganz zahm und sachte aus dem Knäuel heraus und
lief aus allen Kräften den Berg hinauf, so als wäre einer hinter ihm
drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine
furchtbare Angst eingejagt. Er wußte ja jetzt, daß jeden Augenblick
ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache
untersuchen mußte, und dann konnte es doch rauskommen, daß er es getan
hatte, und dann würden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus
schleppen. Das sah der Peter vor sich, und seine Haare sträubten sich
vor Schrecken.
Ganz verstört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts,
er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett
hinein und stöhnte.
»Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, daß
er so ächzen muß«, meinte die Mutter Brigitte.
»Du mußt ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein
Stücklein von dem meinen«, sagte die Großmutter mitleidig.
Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein
hinausschauten, sagte das Heidi:
»Hast du nicht heut den ganzen Tag denken müssen, wie gut es doch ist,
daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so furchtbar stark
beten um etwas, wenn er etwas viel Besseres weiß?«
»Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?« fragte Klara.
»Weißt du, weil ich in Frankfurt so stark gebetet habe, daß ich doch
auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte,
habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du,
wenn ich so bald fortgelaufen wäre, so wärest du nie gekommen, und du
wärest nicht gesund geworden auf der Alp.«
Klara war ganz nachdenklich geworden. »Aber, Heidi«, fing sie nun
wieder an, »dann müßten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe
Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen
und wir von ihm erbitten wollen.«
»Ja, ja, Klara, meinst du, es gehe dann nur so?« eiferte jetzt das
Heidi. »Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles,
denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergessen, daß wir alles
von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so
vergißt er uns auch, das hat die Großmama gesagt. Aber weißt du, wenn
wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müssen wir nicht
denken, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ganz aufhören zu beten,
sondern dann müssen wir so beten: Jetzt weiß ich schon, lieber Gott,
daß du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein,
daß du es so gut machen willst.«
»Wie ist dir das alles so in den Sinn gekommen, Heidi?« fragte Klara.
»Die Großmama hat mir's zuerst erklärt, und dann ist es auch so
gekommen, und dann hab ich's gewußt.
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