Aber ich meine auch, Klara«, fuhr
das Heidi fort, indem es sich aufsetzte, »heute müssen wir gewiß dem
lieben Gott noch recht danken, daß er das große Glück geschickt hat,
daß du jetzt gehen kannst.«
»Ja gewiß, Heidi, du hast recht, und ich bin froh, daß du mich noch
erinnerst; vor lauter Freude hätte ich es fast vergessen.«
Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes
in seiner Weise für das herrliche Gut, das er der so lange krank
gewesenen Klara geschenkt hatte.
Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die
Frau Großmama schreiben, ob sie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle,
es wäre da etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen andern
Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraschung
bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so daß sie,
allein auf das Heidi gestützt, einen kleinen Gang machen könnte;
von allem aber müßte die Großmama keine Ahnung haben. Nun wurde der
Großvater beraten, wie lange das noch währen könnte, und da er meinte,
kaum acht Tage, so wurde im nächsten Briefe die Großmama dringend
eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde
ihr aber kein Wort berichtet.
Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerschönsten, welche
Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte sie mit der
lauten Freudenstimme in ihrem Herzen: »Ich bin gesund! Ich bin gesund!
Ich muß nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie
die anderen Menschen!«
Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser,
und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte
dann einen solchen Appetit mit sich, daß der Großvater seine dicken
Butterschnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen
sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen
Topf voll von der schäumenden Milch herbei und füllte Schüsselchen um
Schüsselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der
die Großmama bringen sollte!
Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen
Die Großmama hatte einen Tag vor ihrer Ankunft noch einen Brief nach
der Alp hinauf geschrieben, damit sie oben bestimmt wüßten, daß sie
komme. Diesen Brief brachte am andern Tage der Peter in der Frühe
mit sich, als er auf die Weide zog. Schon war der Großvater mit den
Kindern aus der Hütte getreten, und auch Schwänli und Bärli standen
beide draußen und schüttelten lustig ihre Köpfe in der frischen
Morgenluft, während die Kinder sie streichelten und ihnen glückliche
Reise wünschten zu ihrer Bergfahrt. Behaglich stand der Öhi dabei und
schaute bald auf die frischen Gesichter der Kinder, bald auf seine
sauber glänzenden Geißen nieder. Beides mußte ihm gefallen, denn er
lächelte vergnüglich.
Jetzt kam der Peter heran. Als er die Gruppe gewahr wurde, näherte er
sich langsam, streckte den Brief dem Öhi entgegen, und sobald dieser
ihn erfaßt hatte, sprang er scheu zurück, so als ob ihn etwas
erschreckt habe, und dann guckte er schnell hinter sich, gerade als ob
von hinten ihn auch noch etwas hätte erschrecken wollen; dann machte
er einen Sprung und lief davon, den Berg hinauf.
»Großvater«, sagte das Heidi, das dem Vorgang verwundert zugeschaut
hatte, »warum tut der Peter jetzt immer wie der große Türk, wenn der
eine Rute hinter sich merkt; dann scheut er mit dem Kopf und schüttelt
ihn nach allen Seiten und macht auf einmal Sprünge in die Luft
hinauf.«
»Vielleicht merkt der Peter auch eine Rute hinter sich, die er
verdient«, antwortete der Großvater.
Nur die erste Halde hinauf lief der Peter so in einem Zuge davon;
sobald man ihn von unten nicht mehr sehen konnte, kam es anders. Da
stand er still und drehte scheu den Kopf nach allen Seiten. Plötzlich
tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe
ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder
Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt
auf sich losstürzen zu sehen. Je länger aber diese gespannte Erwartung
dauerte, je schreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen
ruhigen Augenblick mehr.
Nun mußte das Heidi seine Hütte aufräumen, denn die Großmama sollte
doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. Klara fand dieses
geschäftige Treiben Heidis in allen Ecken der Hütte herum immer so
kurzweilig, daß sie mit Vorliebe dieser Tätigkeit zuschaute.
So vergingen die frühen Morgenstunden den Kindern unversehens, und
schon konnte man der Ankunft der Großmama entgegensehen.
Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange gerüstet wieder heraus
und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor die Hütte, in voller
Erwartung auf die kommenden Ereignisse.
Auch der Großvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen
Gang gemacht und hatte einen großen Strauß dunkelblauer Enzianen
mitgebracht, die leuchteten so schön in der hellen Morgensonne, daß
die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Großvater trug sie in
die Hütte hinein. Von Zeit zu Zeit sprang das Heidi von der Bank, um
auszuspähen, ob von dem Zuge der Großmama noch nichts zu entdecken
sei.
Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade so, wie das Heidi es
erwartet hatte. Voran stieg der Führer, dann kam das weiße Roß und die
Großmama darauf, und zuletzt kam der Träger mit dem hohen Reff, denn
ohne reichlich Schutzmittel zog die Großmama nun einmal nicht auf die
Alp.
Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht; die Großmama
erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter.
»Was ist denn das? Was seh ich, Klärchen? Du sitzest nicht in deinem
Sessel! Wie ist das möglich?« rief sie erschrocken aus und stieg nun
eilig herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war,
schlug sie die Hände zusammen und rief in der höchsten Aufregung:
»Klärchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja rote Wangen,
kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!« Jetzt wollte die
Großmama auf Klara losstürzen. Aber unversehens war das Heidi von der
Bank geglitten, Klara hatte sich schnell auf seine Schultern gestützt,
und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang
machend. Die Großmama war plötzlich stillgestanden, erst vor
Schrecken, sie meinte nicht anders, als das Heidi stelle eben etwas
Unerhörtes an.
Aber was sah sie vor sich!
Aufrecht und sicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen sie
wieder zurück, beide mit strahlenden Gesichtern, beide mit rosenroten
Backen.
Jetzt stürzte die Großmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte
sie ihr Klärchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand
die Großmama gar keine Worte.
Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank stand und
mit behaglichem Lächeln nach den dreien herüberschaute. Jetzt faßte
die Großmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter
immerwährenden Ausrufungen des Entzückens, daß es ja wirklich so sei,
daß sie umherwandern könne mit dem Kinde, der Bank zu.
1 comment