Hier ließ sie
Klara los und ergriff den Alten bei beiden Händen.
»Mein lieber Öhi! Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es
ist Ihr Werk! Es ist Ihre Sorge und Pflege…«
»Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft«, fiel der Öhi
lächelnd ein.
»Ja, und Schwänlis gute, schöne Milch gewiß auch«, rief nun Klara
ihrerseits. »Großmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geißenmilch
trinken kann und wie gut sie ist!«
»Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen«, sagte jetzt die
Großmama lachend. »Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist
du ja geworden, wie ich nie geahnt, daß du je werden könntest, und
groß bist du, Klärchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja
nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden
an meinen Sohn in Paris, er muß sogleich kommen. Ich sag ihm nicht,
warum, das ist die größte Freude seines Lebens. Mein lieber Öhi, wie
machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?«
»Die sind fort«, antwortete er, »aber wenn's der Frau Großmama
pressiert, so läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.«
Die Großmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu
schicken, denn dieses Glück sollte ihm keinen Tag vorenthalten
bleiben.
Nun ging der Öhi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so
durchdringenden Pfiff durch seine Finger, daß es hoch oben von den
Felsen zurückpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte
gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff
wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Almöhi rufe ihn
zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die
Großmama unterdessen überschrieben hatte, und der Öhi erklärte ihm, er
habe das Papier sofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Postamt
abzugeben, die Bezahlung werde der Öhi später selbst in Ordnung
bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht
übertragen.
Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, für diesmal wieder
erleichtert, davon, denn der Öhi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen,
es war kein Polizeidiener angekommen.
Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor
der Hütte herumsetzen, und nun mußte der Großmama erzählt werden, wie
von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Großvater
jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara
probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und
der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach
den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern
gekommen war. Aber es währte lange, bis diese Erzählung von den
Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch mußte die Großmama
immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer
wieder rief sie aus: »Aber ist es denn auch möglich! Ist es denn auch
wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier
vor der Almhütte, und das Mädchen vor mir mit dem runden, frischen
Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klärchen?«
Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre schön
ausgedachte Überraschung so gut gelungen war bei der Großmama und
immer noch fortwirkte.
Herr Sesemann hatte unterdessen seine Geschäfte in Paris beendet, und
auch er hatte vor, eine Überraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an
seine Mutter zu schreiben, setzte er sich an einem der sonnigen
Sommermorgen auf die Eisenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Basel,
von wo er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach,
denn es hatte ihn ein großes Verlangen ergriffen, einmal wieder sein
Töchterchen zu sehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt
gewesen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt
seiner Mutter an.
Die Nachricht, daß sie eben heute die Reise nach der Alp unternommen
habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und
fuhr nach Maienfeld hinüber. Als er da hörte, daß er auch noch bis zum
Dörfli hinauffahren könne, tat er dies, denn er dachte, die Fußpartie
den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden.
Herr Sesemann hatte sich nicht getäuscht; die unausgesetzte Steigung
die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor. Noch immer war
keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß auf halbem Wege er auf
die Wohnung des Geißenpeter stoßen sollte, denn oftmals hatte er die
Beschreibung dieses Weges vernommen.
Es waren überall Spuren von Fußgängern zu sehen, manchmal gingen die
schmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Sesemann wurde unsicher,
ob er auch auf dem richtigen Pfade sei oder ob vielleicht die Hütte
auf einer andern Seite der Alp liege. Er sah sich um, ob kein
menschliches Wesen zu entdecken sei, das er um den Weg befragen
könnte. Aber es war still ringsum, weit und breit war nichts zu sehen
noch zu hören. Nur der Bergwind sauste dann und wann durch die Luft,
und im sonnigen Blau summten die kleinen Mücken, und ein lustiges
Vögelein pfiff da und dort auf einem einsamen Lärchenbäumchen. Herr
Sesemann stand eine Weile still und ließ sich die heiße Stirne vom
Alpenwinde kühlen.
Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit
seiner Depesche in der Hand. Er lief gradaus, steil herunter, nicht
auf dem Fußwege, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Läufer aber
nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann, daß er herüberkommen sollte.
Zögernd und scheu kam der Peter heran, seitwärts, nicht gradaus, und
so, als könne er nur mit dem einen Fuß richtig vorankommen und müsse
den andern nachschleppen.
»Na, Junge, frisch heran!« ermunterte Herr Sesemann.
»Jetzt sag mir mal, komme ich auf diesem Wege zu der Hütte hinauf,
wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus
Frankfurt sind?«
Ein dumpfer Ton furchtbarsten Schreckens war die Antwort, und so
maßlos schoß der Peter davon, daß er kopfüber und über die steile
Halde hinabstürzte und fortrollte in unwillkürlichen Purzelbäumen,
immer weiter und weiter, ganz ähnlich, wie der Rollstuhl getan hatte,
nur daß glücklicherweise der Peter nicht in Stücke ging, wie es bei
dem Sessel der Fall gewesen war.
Nur die Depesche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.
»Merkwürdig schüchterner Bergbewohner«, sagte Herr Sesemann vor sich
hin, denn er dachte nicht anders, als daß die Erscheinung eines
Fremden diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn
hervorgebracht habe.
Nachdem er Peters gewalttätige Talfahrt noch ein wenig betrachtet
hatte, setzte Herr Sesemann seinen Weg weiter fort.
Der Peter konnte trotz aller Anstrengung keinen festen Standpunkt
gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit überschlug er sich
noch in besonderer Weise.
Aber das war nicht die schrecklichste Seite seines Schicksals in
diesem Augenblick, viel erschrecklicher waren die Angst und das
Entsetzen, die ihn erfüllten, nun er wußte, daß der Polizeidiener
aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran
zweifeln, daß der Fremde es sei, der den Frankfurtern beim Almöhi
nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des
Dörfli, warf es den Peter an einen Busch hin, da konnte er sich
endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte
sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm sei.
»Gut so, wieder einer!« sagte eine Stimme hart neben dem Peter. »Und
wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er herunterkommt wie ein
schlechtvernähter Kartoffelsack?«
Es war der Bäcker, der so spottete. Da er da droben aus seinem heißen
Tagewerk weg sich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugesehen,
wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unähnlich, von
oben heruntergekommen war.
Der Peter schnellte auf seine Füße. Er hatte einen neuen Schrecken.
Jetzt wußte der Bäcker auch schon, daß der Stuhl einen Puff bekommen
hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzusehen, lief der Peter wieder den
Berg hinauf.
1 comment