Am liebsten wäre er jetzt heimgegangen und in sein Bett
gekrochen, daß ihn keiner mehr finden konnte, denn da fühlte er sich
am sichersten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der Öhi
hatte ihm noch eingeschärft, bald wiederzukommen, damit die Herde
nicht zu lange allein sei. Den Öhi aber fürchtete er vor allen und
hatte einen solchen Respekt vor ihm, daß er niemals gewagt hätte, ihm
ungehorsam zu sein. Der Peter ächzte laut und hinkte weiter, es mußte
ja sein, er mußte wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht
mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stöße, die er soeben erduldet
hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken
und Stöhnen weiter die Alm hinauf.
Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hütte
erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Wege war. Er stieg
mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, mühevoller
Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhütte,
und oben darüber wogten die dunkeln Wipfel der alten Tannen.
Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte
er sein Kind überraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft
vor der Hütte entdeckt und erkannt worden, und für den Vater wurde
vorbereitet, was er nicht ahnte.
Als er den letzten Schritt zur Höhe getan hatte, kamen ihm von der
Hütte her zwei Gestalten entgegen. Es war ein großes Mädchen mit
hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stützte sich
auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunklen Augen
funkelten. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die
Herankommenden an. Auf einmal stürzten ihm die großen Tränen aus
den Augen. Was stiegen auch für Erinnerungen in seinem Herzen auf!
Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Mädchen mit den
angehauchten Rosenwangen. Herr Sesemann wußte nicht, war er wachend,
oder träumte er.
»Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?« rief ihm jetzt Klara mit
freudestrahlendem Gesicht entgegen. »Bin ich denn so verändert?«
Nun stürzte Herr Sesemann auf sein Töchterchen zu und schloß es in
seine Arme.
»Ja, du bist verändert! Ist es möglich? Ist es Wirklichkeit?«
Und der überglückliche Vater trat wieder einen Schritt zurück, um
noch einmal hinzusehen, ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen
Augen.
»Bist du's, Klärchen, bist du's denn wirklich?« mußte er ein Mal ums
andere ausrufen. Dann schloß er sein Kind wieder in die Arme, und
gleich nachher mußte er noch einmal sehen, ob es wirklich sein
Klärchen sei, das aufrecht vor ihm stand.
Jetzt war auch die Großmama herbeigekommen, sie konnte nicht so lange
warten, bis sie das glückliche Gesicht ihres Sohnes erblicken sollte.
»Na, mein lieber Sohn, was sagst du jetzt?« rief sie ihm zu. »Die
Überraschung, die du uns machst, ist recht schön; aber diejenige, die
man dir bereitet hat, ist noch viel schöner, nicht?« Und die erfreute
Mutter begrüßte nun mit großer Herzlichkeit ihren lieben Sohn. »Aber
jetzt, mein Lieber«, sagte sie dann, »kommst du mit mir dort hinüber,
unsern Öhi zu begrüßen, der ist unser allergrößter Wohltäter.«
»Gewiß, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, muß ich
noch begrüßen«, sagte Herr Sesemann, indem er Heidis Hand schüttelte.
»Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man muß nicht fragen,
kein Alpenröschen kann blühender aussehen. Das ist mir eine Freude,
Kind, das ist mir eine große Freude!«
Auch das Heidi schaute mit leuchtender Freude zu dem freundlichen
Herrn Sesemann auf. Wie gut war er immer zu ihm gewesen! Und daß er
nun hier auf der Alp ein solches Glück finden sollte, das machte
Heidis Herz laut schlagen vor großer Freude.
Jetzt führte die Großmama ihren Sohn zum Almöhi hinüber, und während
nun die beiden Männer sich sehr herzlich die Hände schüttelten und
Herr Sesemann begann, seinen tiefgefühlten Dank auszusprechen und sein
unermeßliches Erstaunen darüber, wie nur dieses Wunder hatte geschehen
können, da wandte sich die Großmama und ging ein wenig nach der andern
Seite hinüber, dann das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie
wollte einmal nach den alten Tannen sehen.
Da harrte ihrer schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den
Bäumen, da, wo die langen Äste noch einen freien Platz gelassen
hatten, stand ein großer Busch der wundervollsten, dunkelblauen
Enzianen, so frisch und glänzend, als wären sie eben da
herausgewachsen. Die Großmama schlug die Hände zusammen vor Entzücken.
»Wie köstlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!« rief sie ein Mal ums
andere aus. »Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das
zur Freude bereitet? Es ist vollkommen wundervoll.«
Die Kinder waren schon da.
»Nein, nein, ich gewiß nicht«, sagte das Heidi, »aber ich weiß schon,
wer's gemacht hat.«
»So ist's droben auf der Weide, Großmama, und noch viel schöner«, fiel
hier Klara ein. »Aber rat einmal, wer dir heut früh schon die Blumen
von der Weide heruntergeholt hat!« Und Klara lächelte so vergnüglich
zu ihrer Rede, daß der Großmama einen Augenblick der Gedanke kam, das
Kind sei am Ende heute selbst schon dort oben gewesen. Das war doch
aber fast nicht möglich.
Jetzt hörte man ein leises Geräusch hinter den Tannenbäumen; es kam
vom Peter her, der unterdessen hier oben angelangt war. Da er aber
gesehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte stand, hatte er einen
großen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen
hinaufschleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich
stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen
heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit
so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er
sollte doch eine kleine Belohnung haben.
»Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!« rief die
Großmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Bäume
hinein.
Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine
Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten.
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