Dann schloß er sein Kind wieder in die Arme, und
gleich nachher mußte er noch einmal sehen, ob es wirklich sein
Klärchen sei, das aufrecht vor ihm stand.
Jetzt war auch die Großmama herbeigekommen, sie konnte nicht so lange
warten, bis sie das glückliche Gesicht ihres Sohnes erblicken sollte.
»Na, mein lieber Sohn, was sagst du jetzt?« rief sie ihm zu. »Die
Überraschung, die du uns machst, ist recht schön; aber diejenige, die
man dir bereitet hat, ist noch viel schöner, nicht?« Und die erfreute
Mutter begrüßte nun mit großer Herzlichkeit ihren lieben Sohn. »Aber
jetzt, mein Lieber«, sagte sie dann, »kommst du mit mir dort hinüber,
unsern Öhi zu begrüßen, der ist unser allergrößter Wohltäter.«
»Gewiß, und auch unsere Hausgenossin, unser kleines Heidi, muß ich
noch begrüßen«, sagte Herr Sesemann, indem er Heidis Hand schüttelte.
»Nun? Immer frisch und gesund auf der Alp? Aber man muß nicht fragen,
kein Alpenröschen kann blühender aussehen. Das ist mir eine Freude,
Kind, das ist mir eine große Freude!«
Auch das Heidi schaute mit leuchtender Freude zu dem freundlichen
Herrn Sesemann auf. Wie gut war er immer zu ihm gewesen! Und daß er
nun hier auf der Alp ein solches Glück finden sollte, das machte
Heidis Herz laut schlagen vor großer Freude.
Jetzt führte die Großmama ihren Sohn zum Almöhi hinüber, und während
nun die beiden Männer sich sehr herzlich die Hände schüttelten und
Herr Sesemann begann, seinen tiefgefühlten Dank auszusprechen und sein
unermeßliches Erstaunen darüber, wie nur dieses Wunder hatte geschehen
können, da wandte sich die Großmama und ging ein wenig nach der andern
Seite hinüber, dann das hatte sie nun schon durchgesprochen. Sie
wollte einmal nach den alten Tannen sehen.
Da harrte ihrer schon wieder etwas Unerwartetes. Mitten unter den
Bäumen, da, wo die langen Äste noch einen freien Platz gelassen
hatten, stand ein großer Busch der wundervollsten, dunkelblauen
Enzianen, so frisch und glänzend, als wären sie eben da
herausgewachsen. Die Großmama schlug die Hände zusammen vor Entzücken.
»Wie köstlich! Wie prächtig! Welch ein Anblick!« rief sie ein Mal ums
andere aus. »Heidi, mein liebes Kind, komm hierher! Hast du mir das
zur Freude bereitet? Es ist vollkommen wundervoll.«
Die Kinder waren schon da.
»Nein, nein, ich gewiß nicht«, sagte das Heidi, »aber ich weiß schon,
wer's gemacht hat.«
»So ist's droben auf der Weide, Großmama, und noch viel schöner«, fiel
hier Klara ein. »Aber rat einmal, wer dir heut früh schon die Blumen
von der Weide heruntergeholt hat!« Und Klara lächelte so vergnüglich
zu ihrer Rede, daß der Großmama einen Augenblick der Gedanke kam, das
Kind sei am Ende heute selbst schon dort oben gewesen. Das war doch
aber fast nicht möglich.
Jetzt hörte man ein leises Geräusch hinter den Tannenbäumen; es kam
vom Peter her, der unterdessen hier oben angelangt war. Da er aber
gesehen hatte, wer beim Öhi vor der Hütte stand, hatte er einen
großen Bogen gemacht und wollte nun ganz heimlich hinter den Tannen
hinaufschleichen. Aber die Großmama hatte ihn erkannt, und plötzlich
stieg ein neuer Gedanke in ihr auf. Sollte der Peter die Blumen
heruntergebracht haben und nun aus lauter Scheu und Bescheidenheit
so heimlich vorbeischleichen wollen? Nein, das durfte nicht sein, er
sollte doch eine kleine Belohnung haben.
»Komm, mein Junge, komm hier heraus, frisch, ohne Scheu!« rief die
Großmama laut und steckte ein wenig den Kopf zwischen die Bäume
hinein.
Starr vor Schrecken stand der Peter still. Er hatte keine
Widerstandskraft mehr nach allem Erlebten. Er fühlte nur noch das
eine: Jetzt ist's aus! Alle Haare standen ihm aufrecht auf dem Kopf,
und farblos und entstellt von höchster Angst trat der Peter hinter den
Tannen hervor.
»Nur frisch heran, ohne Umwege«, ermunterte die Großmama. »So, nun sag
mir mal, Junge, hast du das gemacht?«
Der Peter hob seine Augen nicht auf und sah nicht, wohin der
Zeigefinger der Großmama wies. Er hatte gesehen, daß der Öhi an der
Ecke der Hütte stand und daß dessen graue Augen durchdringend auf ihn
gerichtet waren, und neben dem Öhi stand das Schrecklichste, das der
Peter kannte, der Polizeidiener aus Frankfurt. An allen Gliedern
zitternd und bebend, stieß der Peter einen Laut hervor, es war ein
»Ja«.
»Nanu«, sagte die Großmama, »was ist denn das Schreckliche dabei?«
»Daß er… daß er… daß er auseinander ist und man ihn nicht
mehr ganz machen kann«, brachte mühsam der Peter heraus, und nun
schlotterten seine Knie so, daß er fast nicht mehr stehen konnte. Die
Großmama ging nach der Hüttenecke hinüber.
»Mein lieber Öhi, rappelt es denn wirklich ernstlich bei dem armen
Buben?« fragte sie teilnehmend.
»Gar nicht, gar nicht«, versicherte der Öhi. »Der Bube ist nur der
Wind, der den Rollstuhl fortgejagt hat, und nun erwartet er seine
wohlverdiente Strafe.«
Das konnte nun die Großmama gar nicht glauben, denn sie meinte,
boshaft sehe der Peter doch ganz und gar nicht aus, und sonst hätte er
doch keinen Grund gehabt, den so notwendigen Rollstuhl zu zerstören.
Aber dem Öhi war das Geständnis nur die Bestätigung eines Verdachtes
gewesen, der gleich nach der Tat in ihm aufgestiegen war. Die
grimmigen Blicke, die der Peter von Anfang an der Klara zugeworfen
hatte, und andere Merkmale seiner Erbitterung gegen die neuen
Erscheinungen auf der Alp waren dem Öhi nicht entgangen. Er hatte
einen Gedanken an den andern gehängt, und so hatte er genau den
ganzen Gang der Dinge erkannt und teilte ihn jetzt der Großmama in
aller Klarheit mit. Als er zu Ende war, brach die Dame in große
Lebhaftigkeit aus.
»Nein, mein lieber Öhi, nein, nein, den armen Buben wollen wir nicht
weiter strafen. Man muß billig sein. Da kommen die fremden Leute aus
Frankfurt hereingebrochen und nehmen ihm ganze Wochen lang das Heidi
weg, sein einziges Gut und wirklich ein großes Gut, und da sitzt er
allein Tag für Tag und hat das Nachsehen. Nein, nein, da muß man
billig sein; der Zorn hat ihn überwältigt und hat ihn zu der Rache
getrieben, die ein wenig dumm war, aber im Zorn werden wir alle dumm.«
Damit ging die Großmama zum Peter zurück, der noch immerfort bebte und
schlotterte.
Sie setzte sich auf die Bank unter die Tanne und sagte freundlich:
»So, nun komm, mein Junge, da vor mich hin, ich habe dir etwas zu
sagen. Höre auf zu zittern und zu beben und hör mir zu, das will
ich haben. Du hast den Rollstuhl den Berg hinuntergejagt, damit er
zerschmettere. Das war etwas Böses, das hast du recht wohl gewußt,
und daß du eine Strafe verdientest, das wußtest du auch, und damit
du diese nicht erhaltest, hast du dich recht anstrengen müssen, daß
keiner es merke, was du getan hattest.
1 comment