Der Peter machte vor
Erstaunen seine runden Augen so weit auf als nur möglich, denn die
beiden Stücke waren wohl doppelt so groß wie die zwei, die er als
eignes Mittagsmahl drinnen hatte.
"So, nun kommt noch das Schüsselchen hinein", fuhr der Öhi fort,
"denn das Kind kann nicht trinken wie du, nur so von der Geiß weg,
es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüsselchen voll zu Mittag,
denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wieder
herunterkommst; gib Acht, dass es nicht über die Felsen
hinunterfällt, hörst du?"—
Nun kam Heidi hereingelaufen. "Kann mich die Sonne jetzt nicht
auslachen, Großvater?", fragte es angelegentlich. Es hatte sich
mit dem groben Tuch, das der Großvater neben dem Wasserzuber
aufgehängt hatte, Gesicht, Hals und Arme in seinem Schrecken vor
der Sonne so erstaunlich gerieben, dass es krebsrot vor dem
Großvater stand. Er lachte ein wenig.
"Nein, nun hat sie nichts zu lachen", bestätigte er. "Aber weißt
was? Am Abend, wenn du heimkommst, da gehst du noch ganz hinein in
den Zuber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Geißen, da
bekommt man schwarze Füße. Jetzt könnt ihr ausziehen."
Nun ging es lustig die Alm hinan. Der Wind hatte in der Nacht das
letzte Wölkchen weggeblasen; dunkelblau schaute der Himmel von
allen Seiten hernieder, und mittendrauf stand die leuchtende Sonne
und schimmerte auf die grüne Alp, und alle die blauen und gelben
Blümchen darauf machten ihre Kelche auf und schauten ihr fröhlich
entgegen. Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude,
denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen
beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen
Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen,
goldenen Cystusröschen in der Sonne. Vor Entzücken über all die
flimmernden winkenden Blümchen vergaß Heidi sogar die Geißen und
auch den Peter. Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die
Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf
alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Scharen von den Blumen
und packte sie in sein Schürzchen ein, denn es wollte sie alle mit
heimnehmen und ins Heu stecken in seiner Schlafkammer, dass es dort
werde wie hier draußen. —So hatte der Peter heut nach allen
Seiten zu gucken, und seine kugelrunden Augen, die nicht besonders
schnell hin und her gingen, hatten mehr Arbeit, als der Peter gut
bewältigen konnte, denn die Geißen machten es wie das Heidi: Sie
liefen auch dahin und dorthin, und er musste überallhin pfeifen und
rufen und seine Rute schwingen, um wieder alle die Verlaufenen
zusammenzutreiben.
"Wo bist du schon wieder, Heidi?", rief er jetzt mit ziemlich
grimmiger Stimme.
"Da", tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte Peter niemand,
denn Heidi saß am Boden hinter einem Hügelchen, das dicht mit
duftenden Prünellen besät war; da war die ganze Luft umher so mit
Wohlgeruch erfüllt, dass Heidi noch nie so Liebliches eingeatmet
hatte. Es setzte sich in die Blumen hinein und zog den Duft in
vollen Zügen ein.
"Komm nach!", rief der Peter wieder. "Du musst nicht über die
Felsen hinunterfallen, der Öhi hat's verboten."
"Wo sind die Felsen?", fragte Heidi zurück, bewegte sich aber nicht
von der Stelle, denn der süße Duft strömte mit jedem Windhauch dem
Kinde lieblicher entgegen.
"Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum komm jetzt! Und
oben am höchsten sitzt der alte Raubvogel und krächzt."
Das half. Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit
seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
"Jetzt hast genug", sagte dieser, als sie wieder zusammen
weiterkletterten; "sonst bleibst du immer stecken, und wenn du alle
nimmst, hat's morgen keine mehr." Der letzte Grund leuchtete Heidi
ein, und dann hatte es die Schürze schon so angefüllt, dass da
wenig Platz mehr gewesen wäre, und morgen mussten auch noch da sein.
So zog es nun mit dem Peter weiter, und die Geißen gingen nun
alle geregelter, denn sie rochen die guten Kräuter von dem hohen
Weideplatz schon von fern und strebten nun ohne Aufenthalt dahin.
Der Weideplatz, wo Peter gewöhnlich Halt machte mit seinen Geißen
und sein Quartier für den Tag aufschlug, lag am Fuße der hohen
Felsen, die, erst noch von Gebüsch und Tannen bedeckt, zuletzt ganz
kahl und schroff zum Himmel hinaufragen. An der einen Seite der
Alp ziehen sich Felsenklüfte weit hinunter und der Großvater hatte
Recht, davor zu warnen. Als nun dieser Punkt der Höhe erreicht war,
nahm Peter seinen Sack ab und legte ihn sorgfältig in eine kleine
Vertiefung des Bodens hinein, denn der Wind kam manchmal in starken
Stößen dahergefahren, und den kannte Peter und wollte seine
kostbare Habe nicht den Berg hinunterrollen sehen; dann streckte er
sich lang und breit auf den sonnigen Weideboden hin, denn er musste
sich nun von der Anstrengung des Steigens erholen.
Heidi hatte unterdessen sein Schürzchen losgemacht und schön fest
zusammengerollt mit den Blumen darin zum Proviantsack in die
Vertiefung hineingelegt, und nun setzte es sich neben den
ausgestreckten Peter hin und schaute um sich. Das Tal lag weit
unten im vollen Morgenglanz; vor sich sah Heidi ein großes, weites
Schneefeld sich erheben, hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf,
und links davon stand eine ungeheure Felsenmasse, und zu jeder
Seite derselben ragte ein hoher Felsenturm kahl und zackig in die
Bläue hinauf und schaute von dort oben ganz ernsthaft auf das Heidi
nieder. Das Kind saß mäuschenstill da und schaute ringsum, und
weit umher war eine große, tiefe Stille; nur ganz sanft und leise
ging der Wind über die zarten, blauen Glockenblümchen und die
goldnen, strahlenden Cystusröschen, die überall herumstanden auf
ihren dünnen Stängelchen und leise und fröhlich hin und her nickten.
Der Peter war entschlafen nach seiner Anstrengung, und die Geißen
kletterten oben an den Büschen umher. Dem Heidi war es so schön
zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene
Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein
und begehrte gar nichts mehr, als so dazubleiben immerzu. So
verging eine gute Zeit und Heidi hatte so oft und so lange zu den
hohen Bergstöcken drüben aufgeschaut, dass es nun war, als hätten
sie alle auch Gesichter bekommen und schauten ganz bekannt zu ihm
hernieder, so wie gute Freunde.
Jetzt hörte Heidi über sich ein lautes, scharfes Geschrei und
Krächzen ertönen, und wie es aufschaute, kreiste über ihm ein so
großer Vogel, wie es nie in seinem Leben gesehen hatte, mit weit
ausgebreiteten Schwingen in der Luft umher, und in großen Bogen
kehrte er immer wieder zurück und krächzte laut und durchdringend
über Heidis Kopf.
"Peter! Peter! Erwache!", rief Heidi laut. "Sich, der Raubvogel
ist da, sieh! Sieh!"
Peter erhob sich auf den Ruf und schaute mit Heidi dem Vogel nach,
der sich nun höher und höher hinaufschwang ins Himmelsblau und
endlich über grauen Felsen verschwand.
"Wo ist er jetzt hin?", fragte Heidi, das mit gespannter
Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
"Heim ins Nest", war Peters Antwort.
"Ist er dort oben daheim? Oh, wie schön so hoch oben! Warum
schreit er so?", fragte Heidi weiter.
"Weil er muss", erklärte Peter.
"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist",
schlug Heidi vor.
"Oh! oh! oh!", brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter
Missbilligung hervorstoßend; "wenn keine Geiß mehr dorthin kann und
der Öhi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewaltiges Pfeifen und
Rufen anzustimmen, dass Heidi gar nicht wusste, was begegnen sollte;
aber die Geißen mussten die Töne verstehen, denn eine nach der
anderen kam heruntergesprungen, und nun war die ganze Schar auf der
grünen Halde versammelt, die einen fortnagend an den würzigen
Halmen, die anderen hin und her rennend und die Dritten ein wenig
gegeneinander stoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi
war aufgesprungen und rannte mitten unter den Geißen umher, denn
das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie
die Tierlein durcheinander sprangen und sich lustig machten, und
Heidi sprang von einem zum anderen und machte mit jedem ganz
persönliche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere
Erscheinung für sich und hatte seine eigenen Manieren. Unterdessen
hatte Peter den Sack herbeigeholt und alle vier Stücke, die drin
waren, schön auf den Boden hingelegt in ein Viereck, die großen
Stücke auf Heidis Seite und die kleinen auf die seinige hin, denn
er wusste genau, wie er sie erhalten hatte. Dann nahm er das
Schüsselchen und melkte schöne, frische Milch hinein vom Schwänli
und stellte das Schüsselchen mitten ins Viereck. Dann rief er
Heidi herbei, musste aber länger rufen als nach den Geißen, denn
das Kind war so in Eifer und Freude über die mannigfaltigen Sprünge
und Erlustigungen seiner neuen Spielkameraden, dass es nichts sah
und nichts hörte außer diesen. Aber Peter wusste sich verständlich
zu machen, er rief, dass es bis in die Felsen hinaufdröhnte, und
nun erschien Heidi und die gedeckte Tafel sah so einladend aus,
dass es um sie herumhüpfte vor Wohlgefallen.
"Hör auf zu hopsen, es ist Zeit zum Essen", sagte Peter, "jetzt
sitz und fang an."
Heidi setzte sich hin.
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