"Ist die Milch mein?", fragte es, nochmals
das schöne Viereck und den Hauptpunkt in der Mitte mit Wohlgefallen
betrachtend.
"Ja", erwiderte Peter, "und die zwei großen Stücke zum Essen sind
auch dein, und wenn du ausgetrunken hast, bekommst du noch ein
Schüsselchen vom Schwänli und dann komm ich."
"Und von wem bekommst du die Milch?", wollte Heidi wissen.
"Von meiner Geiß, von der Schnecke. Fang einmal zu essen an",
mahnte Peter wieder. Heidi fing bei seiner Milch an, und sowie es
sein leeres Schüsselchen hinstellte, stand Peter auf und holte ein
zweites herbei. Dazu brach Heidi ein Stück von seinem Brot ab, und
das ganze übrige Stück, das immer noch größer war, als Peters
eigenes Stück gewesen, das nun schon samt Zubehör fast zu Ende war,
reichte es diesem hinüber mit dem ganzen großen Brocken Käse und
sagte: "Das kannst du haben, ich habe nun genug."
Peter schaute das Heidi mit sprachloser Verwunderung an, denn noch
nie in seinem Leben hätte er so sagen und etwas weggeben können.
Er zögerte noch ein wenig, denn er konnte nicht recht glauben, dass
es dem Heidi ernst sei; aber dieses hielt erst fest seine Stücke
hin, und da Peter nicht zugriff, legte sie es ihm aufs Knie. Nun
sah er, dass es ernst gemeint sei; er erfasste sein Geschenk,
nickte in Dank und Zustimmung und hielt nun ein so reichliches
Mittagsmahl wie noch nie in seinem Leben als Geißbub. Heidi
schaute derweilen nach den Geißen aus. "Wie heißen sie alle,
Peter?", fragte es.
Das wusste dieser nun ganz genau und konnte es umso besser in
seinem Kopf behalten, da er daneben wenig darin aufzubewahren hatte.
Er fing also an und nannte ohne Anstoß eine nach der anderen,
immer je mit dem Finger die betreffende bezeichnend. Heidi hörte
mit gespannter Aufmerksamkeit der Unterweisung zu, und es währte
gar nicht lange, so konnte es sie alle voneinander unterscheiden
und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre
Besonderheiten, die einem gleich im Sinne bleiben mussten; man
musste nur allen genau zusehen, und das tat Heidi. Da war der
große Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer
gegen alle anderen stoßen, und die meisten liefen davon, wenn er
kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der
kecke Distelfink, das schlanke, behände Geißchen, wich ihm nicht
aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei-, viermal
hintereinander so rasch und tüchtig gegen ihn an, dass der große
Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr angriff, denn der
Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm und hatte scharfe
Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer so
eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu
ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jammernde Stimme
hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte seinen Arm um
den Hals des Geißleins und fragte ganz teilnehmend: "Was hast du,
Schneehöppli? Warum rufst du so um Hilfe?" Das Geißlein schmiegte
sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz still.
Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn
er hatte immer noch zu beißen und zu schlucken: "Es tut so, weil
die Alte nicht mehr mitkommt, sie haben sie verkauft nach Maienfeld
vorgestern, nun kommt sie nicht mehr auf die Alm."
"Wer ist die Alte?", fragte Heidi zurück.
"Pah, seine Mutter", war die Antwort.
"Wo ist die Großmutter?", rief Heidi wieder.
"Hat keine."
"Und der Großvater?"
"Hat keinen."
"Du armes Schneehöppli du", sagte Heidi und drückte das Tierlein
zärtlich an sich. "Aber jammere jetzt nur nicht mehr so; siehst du,
ich komme nun jeden Tag mit dir, dann bist du nicht mehr so
verlassen, und wenn dir etwas fehlt, kannst du nur zu mir kommen."
Das Schneehöppli rieb ganz vergnügt seinen Kopf an Heidis Schulter
und meckerte nicht mehr kläglich. Unterdessen hatte Peter sein
Mittagsmahl beendet und kam nun auch wieder zu seiner Herde und zu
Heidi heran, das schon wieder allerlei Betrachtungen angestellt
hatte.
Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geißen der ganzen Schar
waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen
Vornehmheit betrugen, meistens ihre eigenen Wege gingen und
besonders dem zudringlichen Türk abweisend und verächtlich
begegneten.—
Die Tierchen hatten nun wieder begonnen, nach den Büschen
hinaufzuklettern, und jedes hatte seine eigene Weise dabei, die
einen leichtfertig über alles weg hüpfend, die anderen bedächtlich
die guten Kräutlein suchend unterwegs, der Türk hier und da seine
Angriffe probierend. Schwänli und Bärli kletterten hübsch und
leicht hinan und fanden oben sogleich die schönsten Büsche,
stellten sich geschickt daran auf und nagten sie zierlich ab.
Heidi stand mit den Händen auf dem Rücken und schaute dem allen mit
der größten Aufmerksamkeit zu.
"Peter", bemerkte es jetzt zu dem wieder auf dem Boden Liegenden,
"die schönsten von allen sind das Schwänli und das Bärli."
"Weiß schon", war die Antwort. "Der Alm-Öhi putzt und wäscht sie
und gibt ihnen Salz und hat den schönsten Stall."
Aber auf einmal sprang Peter auf und setzte in großen Sprüngen den
Geißen nach, und das Heidi lief hintendrein; da musste etwas
begegnet sein, es konnte da nicht zurückbleiben. Der Peter sprang
durch den Geißenrudel durch der Seite der Alm zu, wo die Felsen
schroff und kahl weit hinabstiegen und ein unbesonnenes Geißlein,
wenn es dorthin ging, leicht hinunterstürzen und alle Beine brechen
konnte. Er hatte gesehen, wie der vorwitzige Distelfink nach jener
Seite hin gehüpft war, und kam noch gerade recht, denn eben sprang
das Geißlein dem Rande des Abgrundes zu. Peter wollte es eben
packen, da stürzte er auf den Boden und konnte nur noch im Sturze
ein Bein des Tierleins erwischen und es daran festhalten. Der
Distelfink meckerte voller Zorn und Überraschung, dass er so am
Bein festgehalten und am Fortsetzen seines fröhlichen Streifzuges
gehindert war, und strebte eigensinnig vorwärts. Der Peter schrie
nach Heidi, dass es ihm beistehe, denn er konnte nicht aufstehen
und riss dem Distelfink fast das Bein aus. Heidi war schon da und
erkannte gleich die schlimme Lage der beiden. Es riss schnell
einige wohlduftende Kräuter aus dem Boden und hielt sie dem
Distelfink unter die Nase und sagte begütigend:
"Komm, komm, Distelfink, du musst auch vernünftig sein! Sieh, da
kannst du hinabfallen und ein Bein brechen, das tut dir furchtbar
weh."
Das Geißlein hatte sich schnell umgewandt und dem Heidi vergnüglich
die Kräuter aus der Hand gefressen. Derweilen war der Peter auf
seine Füße gekommen und hatte den Distelfink an der Schnur erfasst,
an welcher sein Glöckchen um den Hals gebunden war, und Heidi
erfasste diese von der anderen Seite, und so führten die beiden den
Ausreißer zu der friedlich weidenden Herde zurück. Als ihn aber
Peter hier in Sicherheit hatte, erhob er seine Rute und wollte ihn
zur Strafe tüchtig durchprügeln, und der Distelfink wich scheu
zurück, denn er merkte, was begegnen sollte. Aber Heidi schrie
laut auf: "Nein, Peter, nein, du musst ihn nicht schlagen, sieh,
wie er sich fürchtet!"
"Er verdient's", schnurrte Peter und wollte zuschlagen. Aber Heidi
fiel ihm in den Arm und rief ganz entrüstet: "Du darfst ihm nichts
tun, es tut ihm weh, lass ihn los!"
Peter schaute erstaunt auf das gebietende Heidi, dessen schwarze
Augen ihn so anfunkelten, dass er unwillkürlich seine Rute
niederhielt. "So kann er gehen, wenn du mir morgen wieder von
deinem Käse gibst", sagte dann der Peter nachgebend, denn eine
Entschädigung wollte er haben für den Schrecken.
"Allen kannst du haben, das ganze Stück morgen und alle Tage, ich
brauche ihn gar nicht", sagte Heidi zustimmend, "und Brot gebe ich
dir auch ganz viel, wie heute; aber dann darfst du den Distelfink
nie, gar nie schlagen und auch das Schneehöppli nie und gar keine
Geiß."
"Es ist mir gleich", bemerkte Peter, und das war bei ihm soviel als
eine Zusage. Jetzt ließ er den Schuldigen los, und der fröhliche
Distelfink sprang in hohen Sprüngen auf und davon in die Herde
hinein.—
So war unvermerkt der Tag vergangen, und schon war die Sonne im
Begriff, weit drüben hinter den Bergen hinabzugehen.
1 comment