Heidi saß
wieder am Boden und schaute ganz still auf die Blauglöckchen und
die Cystusröschen, die im goldenen Abendschein leuchteten, und
alles Gras wurde wie golden angehaucht und die Felsen droben fingen
an zu schimmern und zu funkeln, und auf einmal sprang Heidi auf und
schrie: "Peter! Peter! Es brennt! Es brennt! Alle Berge brennen
und der große Schnee drüben brennt und der Himmel. O sieh! Sieh!
Der hohe Felsenberg ist ganz glühend! Oh, der schöne, feurige
Schnee! Peter, sieh auf, sieh, das Feuer ist auch beim Raubvogel!
Sieh doch die Felsen! Sieh die Tannen! Alles, alles ist im Feuer!"
"Es war immer so", sagte jetzt der Peter gemütlich und schälte an
seiner Rute fort, "aber es ist kein Feuer."
"Was ist es denn?", rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass
es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so
schön war's auf allen Seiten. "Was ist es, Peter, was ist es?",
rief Heidi wieder.
"Es kommt von selbst so", erklärte Peter.
"O sieh, sieh", rief Heidi in großer Aufregung, "auf einmal werden
sie rosenrot! Sieh den mit dem Schnee und den mit den hohen,
spitzigen Felsen! Wie heißen sie, Peter?"
"Berge heißen nicht", erwiderte dieser.
"O wie schön, sieh den rosenroten Schnee! Oh, und an den Felsen
oben sind viele, viele Rosen! Oh, nun werden sie grau! Oh! Oh!
Nun ist alles ausgelöscht! Nun ist alles aus, Peter!" Und Heidi
setzte sich auf den Boden und sah so verstört aus, als ginge
wirklich alles zu Ende.
"Es ist morgen wieder so", erklärte Peter. "Steh auf, nun müssen
wir heim."
Die Geißen wurden herbeigepfiffen und—gerufen und die Heimfahrt
angetreten.
"Ist's alle Tage wieder so, alle Tage, wenn wir auf der Weide
sind?", fragte Heidi, begierig nach einer bejahenden Versicherung
horchend, als es nun neben dem Peter die Alm hinunterstieg.
"Meistens", gab dieser zur Antwort.
"Aber gewiss morgen wieder?", wollte es noch wissen.
"Ja, ja, morgen schon!", versicherte Peter.
Nun war Heidi wieder froh und es hatte so viele Eindrücke in sich
aufgenommen und so viele Dinge gingen ihm im Sinn herum, dass es
nun ganz stillschwieg, bis es bei der Almhütte ankam und den
Großvater unter den Tannen sitzen sah, wo er auch eine Bank
angebracht hatte und am Abend seine Geißen erwartete, die von
dieser Seite herunterkämen. Heidi sprang gleich auf ihn zu und
Schwänli und Bärli hinter ihm drein, denn die Geißen kannten ihren
Herrn und ihren Stall. Der Peter rief dem Heidi nach: "Komm dann
morgen wieder! Gute Nacht!" Denn es war ihm sehr daran gelegen,
dass das Heidi wiederkomme.
Da rannte das Heidi schnell wieder zurück und gab dem Peter die
Hand und versicherte ihm, dass es wieder mitkomme, und dann sprang
es mitten in die davonziehende Herde hinein und fasste noch einmal
das Schneehöppli um den Hals und sagte vertraulich: "Schlaf wohl,
Schneehöppli, und denk dran, dass ich morgen wiederkomme und dass
du nie mehr so jämmerlich meckern musst."
Das Schneehöppli schaute ganz freundlich und dankbar zu Heidi auf
und sprang dann fröhlich der Herde nach.
Heidi kam unter die Tannen zurück.
"O Großvater, das war so schön!", rief es, noch bevor es bei ihm
war. "Das Feuer und die Rosen am Felsen und die blauen und gelben
Blumen, und sieh, was ich hier bringe!" Und damit schüttete Heidi
seinen ganzen Blumenreichtum aus dem gefalteten Schürzchen vor den
Großvater hin. Aber wie sahen die armen Blümchen aus! Heidi
erkannte sie nicht mehr. Es war alles wie Heu, und kein einziges
Kelchlein stand mehr offen.
"O Großvater, was haben sie?", rief Heidi ganz erschrocken aus.
"So waren sie nicht, warum sehen sie so aus?"
"Die wollen draußen stehen in der Sonne und nicht ins Schürzchen
hinein", sagte der Großvater.
"Dann will ich gar keine mehr mitnehmen. Aber, Großvater, warum
hat der Raubvogel so gekrächzt?", fragte Heidi nun angelegentlich.
"Jetzt gehst du ins Wasser und ich in den Stall und hole Milch, und
nachher kommen wir hinein zusammen in die Hütte und essen zu Nacht,
dann sag ich dir's."
So wurde getan, und wie nun später Heidi auf seinem hohen Stuhl saß
vor seinem Milchschüsselchen und der Großvater neben ihm, da kam
das Kind gleich wieder mit seiner Frage: "Warum krächzt der
Raubvogel so und schreit immer so herunter, Großvater?"
"Der höhnt die Leute aus dort unten, dass sie so viele
zusammensitzen in den Dörfern und einander bös machen. Da höhnt er
hinunter: 'Würdet ihr auseinander gehen und jedes seinen Weg
und auf eine Höhe steigen wie ich, so wär's euch wohler!'"
Der Großvater sagte diese Worte fast wild, so dass dem Heidi das
Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der
Erinnerung.
"Warum haben die Berge keinen Namen, Großvater?", fragte Heidi
wieder.
"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du mir einen so
beschreiben kannst, dass ich ihn kenne, so sage ich dir, wie er
heißt."
Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen Türmen genau
so, wie es ihn gesehen hatte, und der Großvater sagte wohlgefällig:
"Recht so, den kenn ich, der heißt Falknis. Hast du noch einen
gesehen?"
Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schneefeld, auf dem der
ganze Schnee im Feuer gestanden hatte und dann rosenrot geworden
war und dann auf einmal ganz bleich und erloschen dastand.
"Den erkenn ich auch", sagte der Großvater, "das ist die
Schesaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"
Nun erzählte Heidi alles vom ganzen Tage, wie schön es gewesen, und
besonders von dem Feuer am Abend, und nun sollte der Großvater auch
sagen, woher es gekommen war, denn der Peter hätte nichts davon
gewusst.
"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die Sonne, wenn sie
den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft sie ihnen noch ihre
schönsten Strahlen zu, dass sie sie nicht vergessen, bis sie am
Morgen wiederkommt."
Das gefiel dem Heidi und es konnte fast nicht erwarten, dass wieder
ein Tag komme, da es hinaufkonnte auf die Weide und wieder sehen,
wie die Sonne den Bergen gute Nacht sagte. Aber erst musste es nun
schlafen gehen, und es schlief auch die ganze Nacht herrlich auf
seinem Heulager, und träumte von lauter schimmernden Bergen und
roten Rosen darauf und mittendrin das Schneehöppli in fröhlichen
Sprüngen.
Bei der Großmutter
Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter
und die Geißen, und wieder zogen sie alle miteinander nach der
Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei
diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, dass ihm
gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von
einem Tag zum anderen, wie nur die lustigen Vögelein leben auf
allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind
lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der
Großvater: "Heut bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist,
kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen ins Tal hinabwehen."
Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich
aus, denn er sah lauter Missgeschick vor sich: Einmal wusste er vor
Langeweile nun gar nicht mehr, was anfangen, wenn Heidi nicht bei
ihm war; dann kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann
waren die Geißen so störrig an diesen Tagen, dass er die doppelte
Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidis
Gesellschaft gewöhnt, dass sie nicht vorwärts wollten, wenn es
nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals
unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich.
Am liebsten ging es schon mit Hirt und Geißen auf die Weide zu den
Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu
erleben waren mit all den verschieden gearteten Geißen; aber auch
das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr
unterhaltend für Heidi; und traf es sich, dass er gerade die
schönen runden Geißkäschen zubereitete, wenn es daheim bleiben
musste, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser
merkwürdigen Tätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme
bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor
allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen
und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da musste
es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem anderen weg, was es
auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar nichts wie
dieses tiefe, geheimnisvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da
stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug
bekommen, zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und
rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne nicht
mehr heiß wie im Sommer, und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe
hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und
wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein
dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte
nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er
früh am Morgen heraufkam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel
über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm
schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum
und um. Da kam der Geißenpeter nicht mehr mit seiner Herde, und
Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun
fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort
und fort, bis der Schnee so hoch wurde, dass er bis ans Fenster
hinaufreichte, und dann noch höher, dass man das Fenster gar nicht
mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen.
Das kam dem Heidi so lustig vor, dass es immer von einem Fenster
zum anderen rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und
ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, dass man müsste
ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und
am anderen Tag ging der Großvater hinaus—denn nun schneite es
nicht mehr—und schaufelte ums ganze Haus herum und warf große,
große Schneehaufen aufeinander, dass es war wie hier ein Berg und
dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren
die Fenster wieder frei und auch die Tür, und das war gut, denn als
am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, jedes auf
seinem Dreifuß—denn der Großvater hatte längst auch einen für das
Kind gezimmert—, da polterte auf einmal etwas heran und schlug
immerzu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Tür auf. Es
war der Geißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Tür
gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen,
die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war
von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so
durchkämpfen müssen, dass ganze Massen an ihm hängen geblieben und
auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte
nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es
jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
"Guten Abend", sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah
als möglich ans Feuer heran und sagte weiter nichts mehr; aber sein
ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, dass er da war. Heidi schaute
ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es
überall an ihm zu tauen an, so dass der ganze Peter anzusehen war
wie ein gelinder Wasserfall.
"Nun, General, wie steht's?", sagte jetzt der Großvater. "Nun bist
du ohne Armee und musst am Griffel nagen."
"Warum muss er am Griffel nagen, Großvater?", fragte Heidi sogleich
mit Wissbegierde.
"Im Winter muss er in die Schule gehen", erklärte der Großvater;
"da lernt man lesen und schreiben, und das geht manchmal schwer, da
hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr,
General?"
"Ja, 's ist wahr", bestätigte Peter.
Jetzt war Heidis Teilnahme an der Sache wach geworden und es hatte
sehr viele Fragen über die Schule und alles, was da begegnete und
zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer
viel Zeit verfloss über einer Unterhaltung, an der Peter teilnehmen
musste, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten.
Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in
die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal
hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort
zustande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei
unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen
Satz als Antwort erforderten.
Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser
Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel
gezuckt, was ein Zeichen war, dass er zuhörte.
"So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm,
halt mit!" Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen
aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch.
Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom
Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort
allerlei Sitze zu zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art,
dass es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand
und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der
Peter tat seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein
mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm-Öhi
ihm auf seine dicke Brotschnitte legte. So gut hatte es der Peter
lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing
es an zu dunkeln, und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er
nun "Gute Nacht" und "Dank Euch Gott" gesagt hatte und schon unter
der Tür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Am Sonntag
komm ich wieder, heut über acht Tag, und du solltest auch einmal
zur Großmutter kommen, hat sie gesagt."
Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, dass es zu jemandem gehen
sollte, aber er fasste auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am
folgenden Morgen war sein Erstes, dass es erklärte: "Großvater,
jetzt muss ich gewiss zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.
"
"Es hat zu viel Schnee", erwiderte der Großvater abwehrend.
Aber das Vorhaben saß fest in Heidis Sinn, denn die Großmutter
hatte es ja sagen lassen; so musste es sein. So verging kein Tag
mehr, an dem das Kind nicht fünf- und sechsmal sagte: "Großvater,
jetzt muss ich gewiss gehen, die Großmutter wartet ja immer auf
mich."
Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei
jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren
war, aber eine schöne Sonne ins Fenster guckte, gerade auf Heidis
hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein
Sprüchlein: "Heut muss ich aber gewiss zur Großmutter gehen, es
währt ihr sonst zu lange." Da stand der Großvater auf vom
Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken
Sack herunter, der Heidis Bettdecke war, und sagte: "So komm!" In
großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt
hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen
Ästen lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und
funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, dass Heidi
hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal übers andere ausrief:
"Komm heraus, Großvater, komm heraus! Es ist lauter Silber und
Gold an den Tannen!" Denn der Großvater war in den Schopf
hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten:
Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte
man die Füße nach vorn hinunterhalten und gegen den Schneeboden
stemmen und der Fahrt die Weisung geben.
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