Das kannte Rico, das hatte er einmal gesehen, da
hatte er gestanden, gerade da. Diese Bäume kannte er; wo war
das Häuschen? Da mußte es stehen, ganz nah! Doch es war
nicht da.
Aber da unten war die alte Straße, o, die kannte er so
gut. Dort schimmerten die großen, roten Blumen aus den
grünen Blättern. Da mußte auch eine schmale,
steinerne Brücke sein, dort über dem Ausfluß des
Sees; er war oft hinübergegangen. Man konnte sie nicht
sehen.
Plötzlich rannte Rico, von brennendem Verlangen getrieben,
die Straße hinauf. Da war die kleine Brücke, - er
wußte auf einmal alles -, da war er gegangen, und jemand
hielt ihn an der Hand - die Mutter! Mit einem Male kam das Gesicht
der Mutter ganz klar vor seine Augen, wie er es viele Jahre nie
mehr gesehen hatte. Sie hatte neben ihm gestanden und ihn mit
liebevollen Augen angesehen, und Rico überkam es wie noch nie
in seinem Leben.
Neben der kleinen Brücke warf er sich auf den Boden und
weinte und schluchzte laut: »0 Mutter, wo bist du? Wo bin ich
daheim, Mutter?«
So lag er lange Zeit und mußte sein großes Leid
ausweinen. Es war, als wollte sein Herz zerspringen und als sei es
ein Ausbruch von allem Weh, das ihn bisher stumm und starr gemacht,
wo es ihn getroffen hatte.
Als sich Rico vom Boden erhob, war die Sonne schon weit unten
und ein goldener Abendschein lag auf dem See. Nun wurden die Berge
violettfarbig, und ein rosiger Duft lag rings über den Ufern.
So hatte Rico den See im Sinn gehabt und im Traum gesehen, und noch
viel schöner war es, als er es wieder mir seinen Augen sah.
Rico dachte in einem fort, wie er so dasaß und schaute und
nicht genug schauen konnte: »Wenn ich doch das alles Stineli
zeigen könnte!«
Nun war die Sonne untergegangen und das Licht erlosch
ringsumher. Rico stand und schritt der Straße zu, wo er die
roten Blumen gesehen hatte. Von der Straße ging ein schmaler
Weg dahin. Da standen sie, ein Busch am andern, wie in einem
Garten. Freilich war nur ein offener Zaun darum, und im
eigentlichen Garten waren Blumen und Bäume und Weinranken zu
sehen.
Da droben am Ende stand ein schmuckes Haus mit offener Tür;
im Garten ging ein junger Bursche hin und her und schnitt da und
dort große, goldgelbe Trauben von den Reben und pfiff
wohigemut ein Lied dazu.
Rico schaute die Blumen an und dachte: »Wenn Stineli diese
sehen könnte!« und stand lange am Zaun.
Jetzt erblickte ihn der Bursche und rief ihm zu: »Komm
herein, Geiger, und spiel ein schönes Liedchen, wenn du eins
kannst!«
Das rief ihm der Bursche italienisch zu, und Rico war es ganz
sonderbar dabei; er verstand, was er hörte, aber er hätte
nicht so spechen können. Er trat in den Garten hinein, und der
Bursche wollte mit ihm reden. Als er aber sah, daß Rico nicht
antworten konnte, deutete er auf die offene Tur und machte ihm
verständlich, daß er dort spielen solle. Rico
näherte sich der Tür und trat in ein Zimmer. Ein Bettchen
stand darin; daneben saß eine Frau und verfertigte eine
Handarbeit aus roten Schnüren. Rico stellte sich auf die
Schwelle und fing an, sein Lied zu spielen und zu singen:
»Ihr Schäflein, hinunter...«
Als er fertig war, erhob sich aus dem kleinen Bett der bleiche
Kopf eines Knaben, der rief:
»Spiel noch einmal!«
Rico spielte eine andere Melodie.
»Spiel noch einmal!« tönre es wieder.
So ging es hintereinander, fünf- bis sechsmal, und immer
wieder ertönte aus dem Bett: »Spiel noch
einmal!«
Nun wußte Rico nichts mehr; er nahm seine Geige herunter
und wollte fortgehen. Da fing der Kleine an zu schreien:
»Bleib da, spiel wieder, spiel noch einmal!« Die Frau
stand auf und ging zu Rico. Sie gab ihm etwas in die Hand, und Rico
wußte erst nicht, was sie wollte; aber es kam ihm wieder in
den Sinn, daß Stineli gesagt hatte: wenn er an einer Tür
geige, so gäben ihm die Leute etwas. Dann fragte die Frau
freundlich, woher er komme und wohin er gehe. Rico konnte nicht
antworten. Sie fragte, ob er mit seinen Eltern da sei? Er
schüttelte den Kopf. Ob er allein sei? Er nickte. Wohin er
jetzt am Abend gehen wolle? Rico sagte, daß er es nicht
wisse. Da fühlte die Frau Mitleid mit dem kleinen Fremden,
rief den Burschen herbei und trug ihm auf, er solle mit dem Knaben
nach dem Wirtshaus zur »Goldenen Sonne« gehen, da
verstehe der Wirt vielleicht die Sprache des kleinen Musikanten;
denn er sei lange fort gewesen. Der Wirt solle den Knaben auf ihre
Kosten über Nacht behalten und ihm auch morgen den rechten Weg
weisen, wohin er müsse. Er sei ja noch so jung - »nur
ein paar Jahre älter als der meinige«, setzte sie
mitleidsvoll hinzu -, und er solle ihm auch etwas zu essen
geben.
Der Kleine aus dem Bett schrie wieder: »Er muß noch
einmal spielen!« und ließ nicht ab, bis die Mutter
sagte: »Er kommt ja morgen wieder, jetzt muß er aber
schlafen, und du auch. «
Der Bursche ging Rico voran, und dieser wußte nun wohl,
wohin er komme, er hatte die Worte der Frau verstanden.
Es waren gute zehn Minuten bis zum Städtchen hin. Mitten in
einem Gäßchen trat der Bursche in ein Haus und
unmittelbar in eine große Wirtsstube ein, die war dick voller
Tabaksrauch, und eine Menge Männer saßen an den Tischen
herum.
Der Bursche richtete seinen Auftrag aus, und der Wirt sagte:
»Es ist gut.« Die Wirtin kam auch herbei, und beide
sahen sich Rico von oben bis unten an.
1 comment