Da kam der Bursche der Frau Menotti dahergegangen. Dieser war
zugleich Herr und Knecht auf dem schönen, frucht-reichen Gute
der Frau; denn er verstand die Garten- und Feldarbeit, regierte und
besorgte alles selbst. Er hatte es gut. Darum pfiff er auch
fortwährend.
Als er nun vor der Wirtin stand, stellte er das Pfeifen ein und
bestellte: wenn der junge Musikant von gestern noch nicht weiter
sei, so solle er zu Frau Menotti herüberkommen, das
Büblein wolle ihn noch einmal geigen hören.
»Ja, ja, wenn es der Frau Menotti nur nicht zu sehr
eilt«, sagte die Wirtin, indem sie beide Arme in die Seite
stemmte, zum Zeichen, daß sie keine Eile habe.
»Vorderhand liegt der Musikant oben in seinem guten Bett und
schläft noch tapfer, und ich gönne ihm seinen Schlaf.
Frau Menotti könnt Ihr sagen, ich wolle ihn einmal
vorbeischicken; denn er geht nicht weiter. Ich habe ihn auf- und
angenommen; er ist ein verlassenes Waisenkind, das nicht
wußte, wohin. Und nun ist er wohl versorgt«, setzte sie
mit Nachdruck hinzu.
Der Bursche ging mit seinem Auftrag.
Die Wirtin ließ Rico ausschlafen; denn sie war eine
gutmütige Frau. Nur dachte sie zuerst an den eigenen Gewinn
und dann an den der anderen. Als Rico endlich von selbst erwachte,
hatte er alle Müdigkeit ausgeschlafen und kam frisch die
Treppe herunter.
Da winkte ihn die Wirtin in die Küche hinein, stellte eine
große Schale voll Kaffee vor ihn auf den Tisch und legte
einen schönen, gelben Maiskuchen daneben. Dann sagte sie:
»So kannst du's alle Tage haben, wenn du willst, und am
Mittag und Abend noch viel besser; denn da kocht man für die
Gäste, und da bleibt immer etwas übrig. Dann kannst du
für mich allerlei Wege gehen und daneben geigen, wenn's
nötig ist. Du kannst bei uns daheim sein, hast deine eigene
Kammer und mußt nicht mehr in der Welt umherziehen. Jetzt
sage mir, ob du willst.«
Rico überlegte nicht lange und antwortete zufrieden:
»Ja, ich will«; denn soviel konnte er ganz gut in der
Wirtin Sprache sagen.
Nun ging sie mit ihm durch das ganze Haus, durch Scheune und
Stall, in den Krautgarten und zum Hühnerhof. Von all den
Plätzen aus erklärte sie ihm die Umgebung und die
Richtung, wo es zum Krämer ging, zum Schuhmacher und zu noch
anderen, wichtigen Leuten. Rico gab genau acht, und um ihn zu
prüfen, schickte die Wirtin ihn gleich an drei oder vier Orte,
allerhand Sachen zu holen, wie Öl, Seife, Faden und einen
geflickten Stiefel; denn sie hatte bemerkt, daß Rico einzelne
Worte ganz gut sagen konnte.
Rico besorgte alles richtig. Das gefiel der Wirtin, und gegen
Abend sagte sie: »Nun kannst du mit der Geige zu Frau Menotti
gehen und dort bleiben, bis es Nacht wird.«
Darüber freute sich Rico sehr; denn auf dem Wege kam er an
dem See vorbei und nachher zu den schönen Blumen.
Am See angekommen, lief er zu der kleinen Brücke und lehnte
sich an das Geländer. Da iag wieder alle Schönheit vor
ihm: das Wasser, und die Berge im goldenen Duft, und er konnte fast
nicht mehr weg.
Aber endlich ging er doch; denn er wußte, daß er nun
tun mußte, was ihn die Wirtin hieß, weil er dafür
bei ihr wohnen durfte. Als er in den Garten trat, hörte ihn
schon das Büblein; denn die Tür stand immer offen, und es
rief: »Komm und spiel wieder!«
Frau Menotti kam heraus, gab Rico freundlich die Hand und zog
ihn ins Zimmer hinein. Es war eine große Stube, und man sah
durch die breite Tür in den schönen Garten und auf die
Blumen hinaus. Das kleine Bett des kranken Bübleins stand
gerade der Tur gegenüber, und daneben standen nur Tische,
Stühle und schöne Schränke im Zimmer, aber kein Bett
mehr; denn des Nachts wurde das kleine Bett ins Nebenzimmer
gebracht, wo auch das der Mutter stand. Am Morgen trug man das
Bettchen mit dem kleinen Kranken wieder in die schöne, frohe
Stube hinaus, wo jeden Morgen die Sonne einen glänzenden
Streifen über den Fußboden warf und das Herz des
Bübleins fröhlich machte. Neben dem Bettchen standen zwei
kleine Krücken, und von Zeit zu Zeit nahm die Mutter den
Kleinen aus seinem Bett und leitete ihn auf den Krücken ein
paarmal die Stube auf und nieder: denn er konnte weder gehen noch
stehen. Seine Beinchen waren völlig lahm, er hatte sie nie
gebrauchen können.
Als Rico in die Tür trat, schnellte sich das Büblein
an einer langen Schnur empor, die von der Decke bis auf sein Bett
herunterhing; es konnte sich nicht aus eigener Kraft aufrichten.
Rico trat herzu und schaute das Büblein schweigend an. Es
hatte ganz dünne Armchen, kleine magere Finger und ein so
kleines Gesicht, wie es Rico nie an einem Buben gesehen hatte. Zwei
große Augen schauten Rico durchdringend an. Das Büblein,
das wenig Neues vor Augen sah und nach viel neuen und nie gesehenen
Dingen Sehnsucht hatte, schaute alles ganz genau an, was auf seinen
einsamen Weg kam.
»Wie heißt du?« fragte das Büblein
jetzt.
»Rico«, war die Antwort.
»Und ich Silvio. Wie alt bist du?« fragte es
weiter.
»Bald elf Jahre.«
»Und ich auch bald«, sagte das Büblein.
»Ach, Silvio, was du sagst«, fiel die Mutter ein:
»noch nicht völlig vier bist du, so schnell geht's
nicht.«
»Spiel wieder!« sagte der kleine Silvio. Die Mutter
setzte sich an ihren Platz neben dem Bettchen. Rico stellte sich
etwas weiter unten hin und fing an zu geigen. Silvio konnte nicht
genug bekommen; sobald Rico ein Stück fertig hatte, so
ertönte sein: »Spiel wieder!«
So hatte Rico alle seine Stücke wohl sechsmal
durchgespielt. Da ging die Mutter weg und kam mit einem Teller
wieder, gefüllt mit goldgelben Trauben und sagte, nun
müsse Rico ausruhen, sich an das Bett setzen und mit Silvio
Trauben essen.
Sie ging ein wenig in den Garten hinaus, sah ihre Sachen nach
und war froh darüber; denn sie konnte fast nie von dem Bett
des Kleinen weggehen, er litt es nicht und schrie dann immer
jämmerlich.
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