Ihm selbst wurde eine so
ohrenzerreißende Anerkennung gespendet, daß er nur
immer dachte: wenn's doch bald zu Ende wäre! Denn nichts war
Rico so zuwider wie großer Lärm.
Am Abend sagte die Wirtin zu ihrem Mann: ,Hast's gesehen? Schon
das nächste Mal brauchen wir nur noch z.wei Geiger.«
Und der Wirt war zufrieden und sagte: »Man muß dem
Buben etwas geben.«
Zwei Tage nachher war Tanz droben in Desenzano, und Rico wurde
mit den Geigern hingeschickt; jetzt konnte man ihn schon ausleihen.
Dort war derselbe Lärm und Spektakel, und wenn auch das
Peschiera-Lied nicht gesungen werden mußte, so ging es nun
über anderen Dingen gleich laut zu, und Rico dachte von Anfang
bis zu Ende: wenn wir nur fertig wären!
Er brachte eine ganze Tasche voll Geld heim; das ließ er
alles ungezählt auf den Tisch rollen, als er zurückkam.
Denn es gehörte der Wirtin, und sie lobte ihn und stellte ein
schönes Stück Apfelkuchen vor ihn hin. Am Sonntag nachher
war schon wieder Tanz drüben in Riva. Diesmal freute sich
Rico; denn Riva war jener Ort über dem See, der von Peschiera
aus anzusehen war wie eine sonnige Bucht. um die herum die
freundlichen weißen Häuser lagen und
herüberschimmerten.
Da fuhren die Musikanten am Nachmittag zusammen im offenen Kahn
auf dem goldenen See hin unter blauem Himmel, und Rico dachte: wenn
ich so mit Stineli hinüberfahren könnte! Wie würde
sie erstaunt sein über den See, an den sie nicht glauben
wollte!
Aber drüben ging derselbe Lärm los, und Rico
wünschte wieder fortzukommen; denn von ferne Riva anzusehen im
stillen Abendschein war viel schöner, als hier im
Menschengewühl zu sitzen.
Wenn keine Tanztage waren, konnte Rico jeden Abend zu dem
kleinen Silvio gehen und lange dort bleiben; denn die Wirtin wollte
der Frau Menotti einen Dienst erweisen. Rico ging gern hin, das war
seine Freude. Stets ging er dann am See vorbei zur schmalen
Steinbrücke hin und setzte sich dort; denn dies war der
einzige Ort, wo er das Gefühl hatte, er sei vielleicht daheim.
Lebendig kam ihm nun vor Augen, wie es war, als er noch daheim war.
Was er vor sich sah, hatte er damals so gesehen, und hier erinnerte
er sich auch deutlich der Mutter. Dort am See hatte sie etwas
ausgewaschen, ab und zu herübergesehen und ihm liebevolle
Worte zugerufen. Er saß jetzt auf dem gleichen
Plätzchen, das wußte er genau.
Er mußte sich zwingen, diesen schönen Ort seiner
frühesten Jugend zu verlassen; aber er wußte, daß
Silvio nach ihm schaute. Wenn er dann durch den Garten kam, wurde
es ihm auch wieder wohl, und er trat gern .in das stille, saubere
Haus. Frau Menotti war in einer Weise freundlich zu ihm, wie sonst
niemand, das fühlte er wohl. Sie empfand Mitleid mit dem
verlassenen Waislein, wie sie ihn nannte, nachdem sie die im Ort
erzählte Geschichte seiner Flucht vernommen hatte. Sie fragte
ihn nie nach seinem Leben in den Bergen; denn sie dachte, es wecke
in ihm nur traurige Erinnerungen. Sie fühlte, daß Rico
nicht die Pflege hatte, die ein Büblein in seinem Alter und
von so stiller Art noch brauchte, aber sie konnte nichts machen,
als ihn bei sich haben, soviel es anging. Manchmal legte sie ihm
leise die Hand auf den Kopf, was ihm sehr wohltat.
Dem kleinen Silvio wurde Rico täglich unentbehrlicher.
Schon am Morgen begann er zu jammern und nach Rico zu begehren, und
wenn seine Schmerzen da waren, schrie er noch mehr und wollte sich
nicht mehr beruhigen, wenn Rico nicht kommen konnte. Denn seit Rico
so fließend sprechen konnte, hatte Silvia eine neue, nie
versiegende Quelle der Kurzweil bei ihm gefunzlen; das war sein
Erzählen.
Rico hatte angefangen, dem Silvio von Stineli zu erzählen,
und da ihm selbst dabei wohl wurde und sein ganzes Herz aufging,
wurde er dabei so lebendig und unterhaltend, daß der ruhige
Knabe wie ausgewechselt war. Er wußte hundert Geschichten zu
erzählen: wie Stineli einmal den Sami gerade noch am Bein
erwischte, als er ins Wasserloch fallen wollte und nun immerzu aus
aller Kraft daran ziehen und oben hinaus schreien mußte,
während der Sami unten schrie, bis der Vater ganz langsam
herbeikam; denn er nahm immer an, Kinder schrien von Natur und ohne
Not. - Und wie sie dem Peterli Figuren ausschnitt und dem Urschli
Hausgerät machte aus allen Stoffen, von Holz und Moos und
Grashalmen. Und wie alle Kinder nach Stineli schrien, wenn sie
krank waren, weil sie dann vergaßen. was ihnen weh tat, wenn
sie mit ihnen spielte. Und dann erzählte Rico, wie er mit
Stineli auszog und wie schön das war. Seine Augen leuchteten
dann so zündend, und der ganze Rico wurde so erstaunlich
belebt, daß der kleine Silvio ganz ins Feuer kam und immer
mehr hören wollte. Und wenn Rico schwieg, rief er gleich:
»Erzähl wieder von Stineli!«
Eines Abends kam Silvio in die äußerste Aufregung,
als Rico fortgehen wollte und dazu sagte, morgen und am Sonntag
dürfe er nicht kommen.
Silvio schrie nach der Mutter, als wäre das Haus in Flammen
und er läge mitten drin, und als sie im höchsten
Schrecken aus dem Garten hereingestürzt kam, rief er immerzu:
»Der Rico darf nie mehr ins Wirtshaus, er muß bleiben!
Er muß immer hier sein! Du mußt hierbleiben, Rico, du
mußt, du mußt!«
Da sagte Rico: »Ich wollte schon, aber ich muß doch
gehen.«
Frau Menotti war in großer Verlegenheit. Sie wußte
wohl, was Rico den Wirtsleuten wert war, und daß sie ihn
nicht bekäme, unter keiner Bedingung. So beschwichtigte sie
Silvio, wie sie nur konnte, und Rico zog sie an sich und sagte
voller Mitleid: »Ach du armes Waislein!«
Da schrie Silvio in seinem Zorn: »Was ist ein Waislein?
Ich will auch ein Waislein sein!«
Nun kam auch Frau Menotti in Aufruhr und rief: »Ach,
Silvio, willst du dich noch versündigen? Sieh, ein Waislein
ist ein armes Kind, das keinen Vater und keine Mutter hat und gar
nirgends auf der Welt daheim ist.«
Rico hatte seine dunklen Augen auf die Frau geheftet. Sie sahen
immer dunkler drein, die Frau bemerkte es jedoch nicht. Sie hatte
nicht mehr an Rico gedacht, als sie Silvio in der Aufregung die
Erklärung gab. Rico schlich leise zur Tür hinaus. Frau
Menotti dachte, er sei so leise fortgegangen, damit der Kleine
nicht noch einmal auf gebracht werde, und es war ihr recht.
Sie setzte sich nun an das Bettlein und sagte: »Hör,
Silvio, ich will dir's erklären, dann machst du keinen
Lärm mehr. Siehst du, die Buben kann man aneinander nicht nur
so wegnehmen ; denn wenn ich der Wirtin nun den Rico nehmen wollte,
könnte sie kommen und mir den Silvia nehmen. Dann
könntest du den Garten und die Blumen nie mehr sehen und
müßtest allein in der Kammer schlafen, wo das
Pferdegeschirr hängt.
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