Rico geht so ungern da hinein; er hat
dir's ja schon manchmal erzählt. Was wolltest du dann
machen?«
»Wieder heimgehen«, sagte der Kleine entschlossen.
Er blieb aber nunmehr still und legte sich aufs Ohr.
Rico ging durch den Garten und über die Straße weg
hinab an den See. Da setzte er sich auf sein Plätzchen nieder,
legte seinen Kopf in beide Hände und sagte trostlos:
»Jetzt weiß ich's, Mutter: auf der ganzen Welt bin ich
nirgends daheim, nirgendwo!«
Bis in die Nacht hinein saß er so in seiner großen
Traurigkeit und wäre am liebsten gar nicht mehr aufgestanden,
aber in seine Kammer mußte er endlich doch wieder
zurückkehren.
Silvios großer Wunsch
In dem kleinen Silvio arbeitete die Aufregung weiter, und als er
nun wußte, daß Rico zwei Tage hintereinander keinen
Augenblick kommen würde, fing er schon am frühen Morgen
an, mit Grimm auszurufen: »Nun kommt der Rico nicht! Nun
kommt der Rico nicht!« Und fuhr mit kleinen Pausen so fort
bis zum Abend, und am folgenden Tag begann er wieder beizeiten. Am
dritten Tage hatte ihn diese Tätigkeit so ausgetrocknet,
daß er wie ein Häuflein Stroh war, das ein kleiner Funke
in helle Flammen bringen kann.
Rico erschien am Abend, noch angewidert von dem Tanzlärm,
bei dem er gewesen war. Seit er nun wußte, daß er
nirgends daheim war, hatte der Gedanke an Stineli eine neue Gewalt
bekommen, und er sagte bei sich: »Da ist nur Stineli auf der
ganzen Welt, zu der ich gehöre und die sich um mich
kümmert.« Und es kam ein großes Heimweh nach
Stineli über ihn. Er saß auch kaum an Silvios Bett, so
sagte er: »Siehst du, Silvia, nur einzig bei Stineli ist es
einem wohl und sonst nirgends.« Kaum waren diese Worte
ausgesprochen, da schnellte sich der Kleine augenblicklich in die
Höhe und rief mit aller Kraft: »Mutter, ich will Stineli
haben! Stineli muß kommen. Einzig nur bei Stineli ist es
einem wohl und sonst nirgends!«
Da die Mutter oft Ricos Erzählungen von Stineli und ihren
kleinen Geschwistern mit vieler Befriedigung zugehört hatte,
sagte sie: »Ja, ja, mir wär es schon recht, ich
könnte eine Stineli schon brauchen für dich und mich;
wenn ich nur eine hätte!«
Aber auf diese unbestimmten Worte ging Silvia nicht ein; denn er
war Feuer und Flamme für seine Sache.
»Du kannst Stineli sofort haben!« rief er,
»Rico weiß, wo sie ist, er muß sie holen. Ich
will Stineli haben, alle Tage und immerfort; morgen muß Rico
sie holen, er weiß, wo sie ist.«
Die Mutter sah, daß der Kleine ganzen Ernst aus der Sache
machen wollte. Sie versuchte, ihn durch Ermahnungen auf andere
Gedanken zu bringen; denn sie hatte mehrmals erzählen
hören, welch schreckliches wildes Volk dort oben in den Bergen
lebe. Es sei ein Wunder, daß Rico durch alle Gefahren der
Reise hindurch lebendig bis nach Peschiera heruntergekommen sei.
Kein Mensch würde so ein Mädchen herunterholen, am
wenigsten ein zartes Bürschlein wie Rico; er konnte ja elend
zugrunde gehen, wenn er so etwas beginnen würde. Dann
hätte sie ja die Verantwortung auf sich. Das wollte sie nicht
auch noch, sie hatte schon genug.
Sie stellte Silvio die ganze Unmöglichkeit der Sache vor
und erzählte ihm von vielen schreckhaften Ereignissen und
bösen Menschen, die Rico verfolgen und umbringen könnten.
Aber diesmal half alles nichts. Der kleine Silvio mußte sich
die Sache in den Kopf gesetzt haben, wie noch nichts in seinem
Leben; denn was die Mutter auch vorbrachte und wie sehr sie in
Eifer geriet vor Besorgnis: sobald sie innehielt, sagte Silvio:
»Der Rico muß sie holen, er weiß, wo sie ist.
Da sagte die Mutter: »Und wenn er's auch weiß,
meinst du denn, Rico wolle so in die Gefahr hinauslaufen, wenn er
es so gut haben kann wie hier?« Da sah Silvio den Rico an und
sagte: »Du willst schon gehen und Stineli holen, Rico, oder
nicht?«
»Ja, ich will«, antwortete Rico fest.
»Ach, was soll das werden, jetzt wird mir der Rico auch
noch unvernünftig!« rief die Mutter ganz erschrocken.
»So weiß man sich ja gar nicht mehr zu helfen. Nimm die
Geige, Rico, und spiel und sing etwas, ich muß in den
Garten!« Und damit lief Frau Menotti eilends unter die
Pappelbäume hinaus; denn sie nahm an, Silvio vergesse am
schnellsten seinen Einfall, wenn er sie nicht mehr sähe und
mit seinem Wunsche quälen könnte.
Aber die beiden guten Freunde drinnen spielten nicht und sangen
nicht, sondern brachten sich gegenseitig in Aufregung mit allerhand
Uberlegungen, wie Stineli geholt werden müsse und wie es dann
nachher zugehen werde, wenn sie da sei. Rico vergaß
gänzlich fortzugehen, obschon es dunkel geworden war; denn
Frau Menotti kam absichtlich noch nicht herein. Sie hoffte, Silvio
schlafe vorher ein. Endlich trat sie aber doch ein, und Rico ging
sofort, aber mit Silvio hatte sie noch einen schweren Stand. Er
wollte durchaus die Augen nicht zumachen, bis die Mutter
versprochen habe, Rico müsse Stineli holen. Das konnte sie
aber nicht versprechen, und so kam Silvio zu keiner Ruhe, bis die
Mutter sagte: »Sei nun zufrieden, über Nacht kommt dann
alles in Ordnung.« Sie dachte, über Nacht vergesse er
sein Begehren, wie schon viele, und es komme ihm etwas Neues in den
Sinn.
Da wurde Silvio still und schlief ein. Aber die Mutter hatte
sich verrechnet. Noch war sie am Morgen nicht erwacht, rief Silvio
aus seinem Bettchen herauf: »Ist alles in Ordnung,
Mutter?«
Als sie dies unmöglich bejahen konnte, ging ein solcher
Sturm los, wie sie ihn an dem Büblein noch nie erlebt hatte,
und den ganzen Tag ging das Unwetter fort bis zum späten
Abend, und am Morgen darauf fing Silvio gerade so wieder an, wie er
am Abend aufgehört hatte.
Eine solche Beharrlichkeit im gleichen Begehren hatte Silvio
noch nie an den Tag gelegt. Wenn er schrie und lärmte, konnte
sie s noch ertragen; aber wenn nun die Stunden der großen
Schmerzen kamen, wimmerte Silvio fortwährend in der
kläglichsten Weise: »Nur bei Stineli ist es einem wohl
und sonst nirgends!«
Das schnitt der Mutter ins Herz und war ihr wie ein Vorwurf, als
wollte sie nicht tun, was ihm helfen könnte, aber wie
hätte sie an eine Verwirklichung des Wunsches denken
können! Sie hatte ja Rico selbst auf Silvios Frage:
»Weißt du auch den rechten Weg zu Stineli?«
antworten hören: »Nein, ich weiß keinen Weg, aber
ich finde ihn dann schon. «
Von Tag zu Tag hoffte sie, durch einen glücklichen Umstand
komme Silvio eine neue Forderung n den Sinn; denn so war es sonst
immer gewesen. Sie konnte darauf rechnen - hatte er etwas begehrt,
wenn ihm wohl war, so verwarf er es sicher, sobald seine Schmerzen
kamen. Doch diesmal war es anders, und es hatte seinen guten Grund:
Ricos Erzählungen und Aussprüche über Stineli hatten
in dem empfindlichen Gemüt des kranken Silvio die feste
Überzeugung hervorgebracht, daß ihm nie mehr etwas weh
tun würde, wenn Stineli bei ihm wäre. So gebärdete
er sich jammervoller von Tag zu Tag, und seine Mutter wußte
nicht, wo sie Rat und Beistand finden konnte.
Der Rat des Herrn Pfarrer
In diesem Zustand der Unruhe war es für Frau Menotti ein
rechter Trost, als sie einmal wieder nach langer Zeit den
wohlmeinenden alten Herrn Pfarrer durch den Garten kommen sah, der
von Zeit zu Zeit den kleinen Kranken besuchte. Sie sprang von ihrem
Stuhl auf und rief erfreut: Sieh, Silvio, da kommt der gute Herr
Pfarrer!« und ging ihm entgegen. Silvio aber rief in seinem
Groll über alle Dinge so laut er konnte der Mutter nach:
»Ich wollte lieber, Stineli käme!«
Dann kroch er eilends unter die Decke, damit der Pfarrer nicht
wisse, woher die Stimme kam. Die Mutter war sehr erschrocken und
bat im Eintreten den Besuch, er solle doch den Empfang nicht
übel nehmen, er sei nicht so ernst gemeint. Silvio rührte
sich nicht, er sagte nur ganz heimlich unter der Decke:
»Doch, es ist mir sicher Ernst.«
Der Pfarrer mußte geahnt haben, woher die Stimme kam; er
trat an das Bett heran, und obwohl er kein Haar von Silvio sah,
sagte er: »Gott grüß dich, mein Sohn, wie steht es
mit deiner Gesundheit, und warum verkriechst du dich in
unterirdische Höhlen wie ein kleiner Dachs? Komm hervor und
erkläre mir, was verstehst du unter einem Stineli?«
Nun kroch Silvio hervor; denn er hatte Respekt vor dem
würdigen alten Herrn, da er nun so nah war.
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