Rico hatte fertig gespielt.
»Komm hier zu mir her, Rico!« Der Lehrer rückte
seinen Stuhl ins Licht, und Rico mußte sich vor ihm
aufstellen. »So, nun muß ich ein Wort mit dir reden.
Dein Vater ist ein Italiener, Rico, und siehst du, dort unten gibt
es allerhand Dinge, von denen wir hier in den Bergen nichts wissen.
Nun sieh mir in die Augen und sag mir aufrichtig und der Wahrheit
gemäß: wie bist du dazu gekommen, diese Melodie ohne
Fehler auf meiner Geige zu spielen?«
Rico schaute den Lehrer mit ehrlidien Augen an und sagte:
»Ich habe sie Ihnen abgelernt in der Singschule, wo wir so
viel singen.«
Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung. Der Lehrer
stand auf und ging einige Male hin und her. So war er selbst der
Urheber dieser wunderbaren Erscheinung; da waren also keine
Schwarzkünste im Spiel. Mit versöhntem Gemüt zog er
jetzt seinen Beutel hervor: »Da ist deir halber Gulden, Rico,
er gehört dir mit Recht. Nun fahr so fort und sei recht
aufmerksam auf das Geigenspiel, solange du zur Schule gehst, so
kannst du's zu etwas bringen. In zwölf bis vierzehn Jahren
wirst du vielleicht so weit sein, dir eine Geige anschaffen zu
können. Jetzt kannst du gehen.«
Rico warf noch einen Blick auf die Geige. dann ging er mit
allertiefster Betrübnis im Herzen.
Stineli kam hinter dein Holzstoß hervorgerannt:
»Diesmal bist du aber lange geblieben, hast du
gefragt?«
»Es ist alles verloren«, sagte Rico, und seine
Augenbrauen kamen vor Leid so nahe zusammen, daß sie wie ein
dichter, schwarzer Strich über den Augen lagen. »Eine
Geige kostet sechshundert Batzen, und in vierzehn Jahren kann ich
eine kaufen, wenn schon lange alles tot ist; wer wollte noch am
Leben sein in vierzehn Jahren. Da, das kannst du haben, ich will's
nicht« Damit drückte er den halben Gulden in Stinelis
Hand.
Sechshundert Batzen!« wiederholte Stineli voller
Entsetzen. Aber woher hast du das viele Geld hier?«
Rico erzählte nun alles, was er bei dem Lehrer erlebt hatte
und endete wieder mit dem Worte des größten Leides:
»Jetzt ist alles verloren.« Stineli wollte ihm
wenigstens seinen halben Gulden aufdrängen als einen kleinen
Trost; aber er war ganz ergrimmt über den unschuldigen halben
Gulden und wollte ihn nicht ansehen.
Da sagte Stineli: »So will ich ihn zu meinen Batzen tun,
und dann wollen wir das Geld miteinander teilen und alles
gehört uns zusammen.« Diesmal war auch Stineli sehr
niedergeschlagen; als sie aber mit Rico um die Ecke kam, wo es ins
Feld hinein ging, lag der schmale Fußweg so schön
trocken in der Sonne bis zur Haustür hin, und dort flimmerte
das Plätzchen davor auch ganz weiß und trocken, und
Stineli rief: »Sieh, sieh, nun wird's Sommer, Rico, und wir
können wieder in den Wald hinauf, Dann freut's dich auch
wieder, Wollen wir schon am Sonntag gehen?«
»Es freut mich gar nichts mehr«, sagte Rico,
»aber wenn du gehen willst, komme ich mit,«
An der Tür wurde es ausgemacht: am Sonntag wollten sie
hinübergehen auf die Waldhöhe, und Stineli war schon
wieder froh, Sie tat auch noch die Woche durch, was sie vermochte,
und es gab viel zu tun. Peterli und Sami und Urschli hatten die
Röteln, und im Stall war eine Geiß krank, der
mußte man öfter heißes Wasser bringen. Stineli
mußte da - und dorthin laufen und überall mithelfen,
sobald sie nur aus der Schule kam, und am Samstag den ganzen Tag
lang bis spät am Abend, da mußte sie noch die
Stalleinier säubern, Da sagte aber auch der Vater am Abend:
»Stineli ist geschickt und fleißig.«
Der ferne, schöne See ohne Namen
Als am Sonntagmorgen Stineli die Augen aufmachte, hatte sie eine
große Freude im Herzen und wußte nicht warum, bis sie
sich besann, daß es Sonntag war und die Großmutter noch
am Abend spät gesagt hatte: »Morgen sollst du einen
schönen Sonntag haben, der ganze Nachmittag gehört
dir!« Als das Mittagessen vorbei war und Stineli alle Teller
weggetragen und den Tisch abgewaschen hatte, rief Peterli:
»Komm zu mir, Stineii«, und die zwei anderen im Bett
schrien: »Nein~ zu mir!« Und der Vater sagte:
»Stineli muß zu der Geiß sehen.«
Aber nun ging die Großmutter in die Küche hinaus und
winkte Stineli nach. »Geh du jetzt in Frieden«, sagte
sie, »der Geiß und den Kindern will ich schon
aufwarten, und wenn die Glocke vom Türmchen läutet, dann
kommt ordentlich heim,« Die Großmutter wußte
schon, daß es ihrer zwei waren.
Jetzt schoß Stineli davon wie ein Vogel, dem man die
Käfigtür aufgemacht hat, und drüben stand Rico, der
hatte schon lange gewartet. Nun zogen sie aus über die Wiese
hin, der Waldhöhe zu. Die Sonne schien über die Berge,
und der Himmel lag blau darüber. Auf der Schattenseite
mußten sie noch ein wenig im Schnee gehen bis hinauf, aber
nun kam die Sonne von vorn und flimmerte über den See.
Schöne, trockene Plätzchen gab's schon am Abhang, steil
über dem Wasser. Dahin setzten sich die Kinder. Ein scharfer
Wind pfiff über die Höhe und sauste ihnen um die Ohren,
Stineli war voll lauter Freude. Ein Mal über das andere rief
sie aus:
»Sieh, sieh, die Sonne, wie schön! Jetzt wird's
Sommer; sieh, wie es glitzert auf dem See, Es kann gar keinen
schöneren See geben, als der ist«, sagte sie
zuversichtlich.
»Ja, ja, Stineli, du solltest nur einmal den See sehen,
den ich meine!« und Rico schaute so verloren über den
See hin, als finge, was er ansehen wollte, erst dort an, wo man
nichts mehr sah.
»Siehst du, dort stehen nicht so schwarze Tannen mit
Nadeln, da sind glänzende, grüne Blätter und
große rote Blumen, und die Berge stehen nicht so hoch und
schwarz und so nah, nur weit drüben liegen sie ganz violett,
und am Himmel und auf dem See ist alles golden und so still und
warm, Der Wind ist dort nicht so rauh, und die Füße hat
man nicht voll Schnee. Man kann immer am sonnigen Boden sitzen und
zuschauen,«
Stineli war hingerissen. Sie sah schon die roten Blumen und den
goldenen See vor sich, das mußte doch schön sein!
»Vielleicht kannst du wieder einmal dahingehen an den See
und alles wieder sehen; weißt du den Weg?«
»Man geht auf den Malojapaß. Dort bin ich schon mit
dem Vater gewesen. Er hat mir die Straße gezeigt, die geht
den ganzen Berg hinunter, immer so hin und her, und weit unten ist
der See, aber noch so weit, daß man fast nicht hinkommen
kann,«
»Ach, das ist ganz leicht«, meinte Stineli;
»du müßtest nur immer weiter gehen, so kämest
du sicher zuletzt hin.«
»Aber der Vater hat mir noch etwas gesagt. Siehst du,
Stineli: wenn man auf dem Wege ist und in ein Wirtshaus hineingeht
und ißt und schläft da, muß man immer bezahlen, da
muß man wieder Geld haben,«
»Oh, Geld haben wir jetzt so viel«, rief Stineli
triumphierend. Aber Rico freute sich nicht mit.
»Das ist gerade soviel wie nichts, das weiß ich noch
von der Geige her«, sagte er traurig.
»So bleib du lieber daheim, Rico; sieh, es ist doch daheim
so schön!«
Eine Weile saß Rico nachdenklich da, seinen Kopf in die
Hand gestützt, und seine Augenbrauen kamen wieder ganz
zusammen. Jetzt kehrte er sich wieder zu Stineli, die unterdessen
von dem weichen, grünen Moos ausrupfte und ein Bettlein
machte, zwei Kissen und eine Decke, die wollte sie der k:anken
Urschli bringen.
»Du sagst, ich soll nur daheim bleiben, Stincli«,
sagte er mit gekrauster Stirne; »aber siehst du, mir ist es
gerade so, als wenn ich nicht wüßte, wo ich daheim
bin,«
»Ach, was sagst du«, rief Stineli und warf vor
Erstaunen eine ganze Hand voll Moos weg. »Hier bist du
daheim, natürlich, Da ist man immer daheim, wo man seinen
Vater und seine Mutter - " ; hier hielt sie plötzlich inne:
Rico hatte ja keine Mutter, und der Vater war schon lange fort, und
die Base? Stineli kam der Base nie zu nah, denn diese hatte ihr nie
ein gutes Wort gegeben; sie wußte gar nicht mehr, wäs
sie noch sagen sollte, Aber Stineli konnte in einem so unsicheren
Zustande nicht lange bleiben, Rico sann wieder vor sich hin; auf
einmal faßte sie ihn am Arm und rief:
»Nun möchte ich doch wissen, wie der See heißt,
wo es so schön ist?«
Rico dachte nach, »Ich weiß es nicht«, sagte
er, selbst darüber verwundert.
Da schlug Stineli vor, sie wollten jemand fragen, wie der See
heiße; denn wenn Rico doch einmal viel Geld hätte und
gehen könnte, müßte er ja den Weg erfragen und
einen Namen wissen. Nun fingen sie an zu beraten, wen man fragen
könnte: den Lehrer oder die Großmutter, Da fiel es Rico
ein, der Vater werde es am besten wissen; den wollte er fragen,
sobald er heim-komme.
Unterdessen war die Zeit vergangen, und auf einmal hörten
die Kinder ganz in der Ferne ein leises Läuten, Sie kannten
den Ton, es war die Abendglocke.
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