Sie sprangen sofort vom Boden auf und rannten mitoinander Hand in Hand durch Gestrüpp und Schnee die Halde hinunter und über die Wiese hin, und die Glocke war noch nicht lange verklungen, als sie schon an der Tür standen, wo die Großmutter nach ihnen aussah.

Stineli mußte nun gleich ins Haus hinein, und die Großmutter sagte nur schnell: »Geh du auch gleich hinein, Rico, und bleib nicht mehr vor der Tür stehen.«

Das hatte die Großmuter noch nie zu ihm gesagt, obschon er immer gern noch draußen blieb; denn es gelüstete ihn nie, ins Haus zu gehen. Er gehorchte aber der Großmutter aufs Wort und ging sofort hinein.

Ein trauriges Haus, aber der See hat einen Namen

Die Base war nicht in der Stube; so ging er wieder hinaus und machte die Küchentür auf. Da stand sie; aber ehe er eintreten konnte, hob sie den Finger in die Höhe, zischelte »Bst! Bst!« und sagte: »Mach nicht alle Türen auf und zu und einen Lärm, als kämen ihrer vier, Geh in die Stube hinein und halte dich still. Der Vater liegt oben in der Kammer; sie haben ihn auf einem Wagen gebracht, er ist krank,«

Rico ging hinein, setzte sich auf die Bank an der Wand und bewegte sich nicht. So saß er eine halbe Stunde lang; die Base schaffte noch immer in der Küche herum, Da dachte Rico, er wolle ganz leise in die Kammer hineinschauen, vielleicht wollte der Vater auch etwas zu Abend essen; es war schon lange Zeit dazu.

Er schlich hinter dem Ofen die kleine Treppe hinauf und kroch in die Kammer, Nach einiger Zeit kam er wieder und ging gleich in die Küche hinaus und nahe an die Base heran. Dann sagte er leise: »Base, komm!«

Diese wollte ihn eben tüchtig ausschelten, als ihre Blicke auf sein Gesicht fielen; es war völlig ohne Farbe, Wangen und Lippen weiß wie ein Tuch, und aus den Augen schaute er so dunkel, daß sich die Base fast fürchtete.

»Was hast du?« fragte sie hastig und folgte ihm unwillkürlich. Da lag der Vater mit starren Augen auf seinem Bett; er war tot.

»Ach, du mein Gott«, schrie die Base und lief mit Lärm zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und gleich ins andere Haus hinein und rief, der Nachbar und die Großmutter sollten herüberkommen; und von da lief sie zum Lehrer und zum Gemeindevorsteher.

So kam eins ums andere und alle traten in die stille Kammer, bis sie voll von Menschen war; denn einer hörte draußen vom andern, was geschehen sei. Und mitten in dem Gewimmel und den vielen bedauernden Worten der Nachbarn stand Rico an dem Bett, lautlos und unbeweglich, und schaute den Vater an.

Die ganze Woche durch kamen täglich noch Leute ins Haus, die den Vater ansehen und von der Base hören wollten, wie alles zugegangen sei, so daß es Rico einmal über das andere erzählen hörte: Sein Vater hatte drunten bei St. Gallen an einer Eisenbahn Arbeit gehabt. Beim Steinsprengen hatte er eine tiefe Wunde in den Kopf bekommen, und da er nun doch nicht mehr arbeiten konnte, wollte er heimgehen, um sich zu pflegen, bis es besser würde. Aber die lange Reise, teils zu Fuß, teils auf offenen Fuhrwagen, hatte er nicht ertragen können, war am Sonntag gegen Abend daheim angekommen und hatte sich auf sein Bett gelegt. Ohne daß ihn jemand gesehen hatte, war er gestorben; denn Rico hatte ihn schon starr ausgestreckt auf dem Bett gefunden.

Am Sonntag darauf wurde der Vater begraben. Rico war der einzige Verwandte, der dem Sarge folgte. Einige gute Nachbarn hatten sich noch angeschlossen; so ging der Zug hinüber nach Sils. Dort hörte Rico, wie der Pfarrer bei der Beerdigung laut ablas: »Der Verstorbene hieß Enrico Trevillo und war gebürtig aus Peschiera am Gardasee.« Da war es Rico, als höre er etwas, das er gut gewußt, aber nicht mehr hatte zusammenfinden können. Immer hatte er auch den See vor sich gesehen, wenn er mit dem Vater gesungen hatte:

»Una sera in Peschiera.«

Aber er hatte nicht gewußt, warum. Leise mußte er die Namen wiederholen; eine Menge alte Lieder lebte damit in ihm auf.

Als er allein zurückgewandert kam, sah er die Großmutter auf dem Holzstumpf sitzen und neben ihr Stineli. Sie winkte ihn zu sich. Dann steckte sie ihm ein Stück Brot in die Tasche, gab auch Stineli davon und sagte, nun sollten sie spazieren gehen, an dem Tage solle auch Rico nicht allein sein. Da wanderten die Kinder zusammen in den hellen Abend hinaus. Die Großmutter blieb auf ihrem Holze sitzen und schaute mitleidig dem schwarzen Büblein nach, bis sie nichts mehr von den Kindern sehen konnte. Dann sagte sie leise für sich:

»Doch was er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End!«

Ricos Mutter

Über den Weg von Sils her kam der Lehrer gegangen. Er hatte an dem Begräbnis teilgenommen. Er hustete und keuchte, und als er nun bei der Großmutter angekommen war und einen »guten Abend« geboten hatte, setzte er hinzu: »Wenn es Euch recht ist, Nachbarin, nehme ich einen Augenblick Platz neben Euch; denn ich habe es stark im Hals und auf der Brust; aber was kann unsereins sagen mit bald siebzig Jahren, wenn man solche rüstige Männer begräbt, wie den heute. Er war noch nicht fünfunddreißig und ein Mann wie ein Baum.«

Der Lehrer hatte sich neben die Großmutter niedergesetzt.

»Es gibt mir auch zu denken«, sagte diese, »daß ich, eine Fünfundsiebzigjährige, übrig bleibe, und da und dort ein Junges fort muß, das könnte man denken, auf Erden noch nötig ist.«

»Die Alten werden auch noch zu etwas gut sein. Wo wäre sonst ein Beispiel für die Jungen?« bemerkte der Lehrer. »Aber was meint Ihr, Nachbarin, was soll nun aus dem Büblein werden?«

»Ja, was soll aus dem Rico werden?« wiederholte die Großmutter. »Ich frage auch so, und wenn ich nur auf die Menschen sehen wollte, so wüßte ich keine Antwort. Aber es ist noch ein Vater im Himmel, der die verlassenen Kinder sieht. Er wird auch einen Weg für das Büblein finden.«

»Sagt mir einmal, Nachbarin, wie ging es zu, daß der Italiener die Tochter von Eurer Nachbarin da drüben zur Frau bekam? Man weiß doch nie, woher solche fremden Menschen kommen und was mit ihnen ist.«

»Es ging eben, wie es geht, Nachbar. Ihr wißt ja, meine alte Nachbarin, die Frau Anne-Dete, hatte alle ihre Kinder verloren und auch den Mann und lebte allein drüben im Häuschen mit der jungen Marie, die immer lustig und froh war. Es mögen jetzt elf oder zwölf Jahre sein, da kam der Trevillo zuerst hierher. Er hatte Arbeit oben am Maloja und hier herunter mit den Burschen, und kaum hatten Marie und er einander gesehen, so wurden sie sich einig, und sie wollten heiraten.

Und das muß man dem Trevillo nachsagen, er war nicht nur ein schöner Bursche, der jedem gefallen konnte, sondern auch ein anständiger und rechtschaffener Mensch; die Anne-Dete hatte selber ihre Freude an ihm. Sie hatte gehofft, die beiden würden bei ihr im Häuschen bleiben, und der Trevillo hätte es gern getan.