Er verstand sich gut mit der Mutter, und Marie tat er alles zu Willen. Er war aber manchmal mit ihr nach dem Maloja hinaufspaziert und hatte die Straße hinuntergeschaut, die weit ins Tal hinabgeht, und er hatte ihr erzählt, wie es unten sei, wo er daheim war. Da hatte sich die Marie in den Kopf gesetzt, sie wolle dort hinunter, und es half alles nichts, wie auch die Mutter jammerte, sie könnten dort nicht leben. Da sagte der Trevillo, deswegen solle sie keine Angst haben, er habe ein Gütlein und ein Häuschen unten, er sei nur lieber ein wenig in die Welt hinausgezogen.

Jetzt hatte die Marie gewonnen, und nach der Hochzeit wollte sie auf der Stelle den Berg hinunter. So geschah es, Marie schrieb dann der Mutter, ihr gehe es gut, und Trevillo sei der beste Mann.

Nach etwa fünf oder sechs Jahren trat eines Tages der Trevillo drüben in die Stube ein bei der Anne-Dete, hatte ein Büblein an der Hand und sagte: ,Da Mutter, das ist noch das einzige, was ich von Marie habe; sie liegt begraben dort unten mit einem anderen kleinen Kind. Der Bub hier war ihr erstes. Er war ihr Liebling.«

So hat sie's mir erzählt. Dann habe er sich auf die Bank niedergelassen, wo er zuerst die Marie gesehen hatte und habe gesagt: hier wolle er bleiben mit seinem Bübelin, wenn's der Mutter recht sei; denn dort unten habe er's nicht mehr ausgehalten.

Das war Freud und Leid miteinander für die Anne-Dete. Der kleine Rico war vier Jahre alt und ein liebes, nachdenkliches Büblein, ohne Lärm und Unart. Er war ihre letzte Freude; ein Jahr nachher starb sie schon. Man riet dem Trevillo, die Base der Anne-Dete zu sich zu nehmen für Haushalt und Kind.«

»So, so«, sagte der Lehrer, als die Großmutter schwieg; »das habe ich alles nicht gewußt. Es kann nun sein, daß sich mit der Zeit Verwandte des Trevillo melden. Man wird ihnen sagen müssen, daß sie etwas für den Knaben tun sollen.«

»Verwandte«, seufzte die Großmutter, »die Base ist auch eine Verwandte; von ihr bekommt Rico wenig gute Worte im Jahr.«

Der Lehrer stand mühsam von seinem Sitz auf. »Mit mir geht's bergab, Nachbarin?, sagte er kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht, wo meine Kräfte hingekommen sind.«

Die Großmutter ermunterte ihn und sagte: er sei ja noch ein junger Mann im Vergleich zu ihr. Sie mußte sich aber doch wundern, wie langsam er davonging.

Ein wunderbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser

Es kamen nun viele schöne Sommertage, und wo die Großmutter nur konnte, richtete sie es ein, daß Stineli einen freien Augenblick bekam; aber es gab immer mehr zu tun in dem Hause. Rico stand manche Stunde auf seiner Schwelle und sah erwartungsvoll nach der Tür drüben, ob Stineli komme.

Im September, die Leute saßen oft noch vor den Häusern, um sich der letzten warmen Abende zu erfreuen, da saß auch der Lehrer noch vor seiner Tür; aber er sah abgemagert aus und keuchte immer mehr, und eines Morgens, als er aufstehen wollte, hatte er die Kraft nicht mehr und fiel wieder auf sein Kissen zurück. Da lag er denn ganz still und fing an, allerlei zu bedenken, und wie es kommen würde, wenn er sterben müßte. Er hatte keine Kinder, und seine Frau war schon lange gestorben; nur eine alte Magd war noch bei ihm im Hause. Er mußte hauptsächlich nachdenken, wohin alle die Sachen kämen, die ihm angehörten, wenn er nicht mehr da wäre, und als er seine Geige sah, die ihm gerade gegenüber an der Wand hing, sagte er zu sich: »Die müßte ich auch dalassen.« Der Tag kam ihm in den Sinn, an dem Rico hier vor ihm gestanden und gegeigt hatte. Er hätte sie dem Büblein eher gegönnt als einem fernen Vetter, der vom Geigenspielen nichts verstand.

Er überlegte: wenn er sie billig hergeben würde, könnte Rico sie vielleicht erstehen. Der Vater habe ihm doch wohl ein wenig Geld hinterlassen. Da fiel ihm ein, wenn er die Geige verlassen müsse, er das Geld auch nicht mehr brauchen könne. Aber er konnte doch ein Instrument, für das er sechs harte Gulden auf den Tisch gelegt hatte, nicht nur so wegschenken. So dachte er immer schärfer darüber nach, wie es zu machen wäre, daß er die Geige nicht so für nichts hergeben müßte, daß sie ihm doch irgend etwas eintrüge; aber zuletzt kam ihm immer wieder klar vor Augen, daß dorthin, wohin er die Geige nicht mitnehmen konnte, er auch nichts anderes fortzubringen imstande war, und daß all sein Gut hier zurückbleiben würde.

Unterdessen fühlte er das Fieber mehr und mehr, und gegen Abend und die ganze Nacht durch lag er in einem großen Kampf von vielen Gedanken. Alte Dinge stiegen vor seinen Augen auf, die er schon lange vergessen hatte, und verfolgten ihn so daß er am Morgen ganz erschöpft dalag und nur noch einen Gedanken hatte: er wollte gern etwas Gutes tun, er wünschte gleich auf der Stelle ein gutes Werk zu verrichten.

Er klopfte mit dem Stock an die Wand, bis die alte Magd hereinkam; dies schickte er zur Großmutter hinaus, sie solle bald zu ihm kommen.

Die Großmutter trat auch bald nachher in seine Stube, und ehe sie nur recht fragen konnte, wie es ihm gehe, sagte er: »Seid so gut und nehmt dort die Geige herunter und bringt sie dem Waisenbüblein. Ich will sie Rico schenken, doch soll er sie gut behandeln.«

Die Großmutter verwunderte sich aufs höchste und rief einmal über das andere aus: »Was wird der Rico sagen!«

Dann bemerkte sie, daß der Lehrer ein wenig unruhig wurde, wie wenn die Sache Eile hätte. So verließ sie ihn bald und eilte nun, so sehr sie konnte, mit ihrem Geschenk unter dem Arm übers Feld; denn sie konnte selbst kaum erwarten, daß Rico sein Glück erfahre.

Dieser stand unter der Haustür. Auf den Wink der Großmutter kam er ihr entgegengelaufen.

»Da, Rico«, sagte sie und hielt ihm die Geige hin, »die schickt dir der Lehrer zum Geschenk, sie ist dein.«

Rico stand da wie im Traum; aber es war Wirklichkeit. Die Großmutter hielt ihm wirklich die Geige entgegen.

»Nimm sie, Rico, sie ist dein«, wiederholte sie.

Zitternd vor Freude und innerer Aufregung ergriff Rico jetzt seine Geige, nahm sie in den Arm und schaute sie unverwandt an, als könne sie ihm wieder wegkommen, wenn er einmal weg-sehen würde.

»Du sollst sie gut behandeln«, ergänzte die Großmutter ihren Auftrag. Sie mußte aber ein wenig lachen, die Ermahnung schien nicht nötig zu sein.