»Und
Rico, denk auch an den Lehrer und vergiß nie, was er an dir
getan hat. Er ist sehr krank.«
Nun trat die Großmutter in ihr Haus ein, und Rico eilte
mit seinem Schatz in seine Kammer hinauf; dort war er immer ganz
allein.
Dorthin setzte er sich und strich und geigte fort und fort, und
vergaß Essen und Trinken und alle Zeit. Erst als es schon
fast dunkeln wollte, stand er auf und ging die Treppe hinunter. Die
Base kam aus der Küche und sagte: »Du kannst erst morgen
wieder essen, heut hast du dich nicht gut aufgeführt, so
daß dir nichts mehr zukommt.«
Rico empfand keinen Hunger, obschon er seit dem frühen
Morgen nichts gegessen hatte. Auch jetzt hatte er nicht ans Essen
gedacht und ging ganz getrost ins andere Haus hinüber; er
suchte die Großmutter. Stineli stand am Herd und machte das
Feuer an. Wie sie des Rico ansichtig wurde, mußte sie laut
auf-jauchzen; denn schon den ganzen Tag hindurch, seit die
Großmutter erzählt hatte, was mir des Lehrers Geige
geschehen war, brannte ihr der Boden unter den Füßen,
weil sie nicht hinaus-konnte, um ihre Freude bei Rico auszulassen;
aber sie durfte keinen Augenblick fort. Nun war sie aber auch wie
außer sich und rief einmal ums andere: »Jetzt hast du
sie! Jetzt hast du sie!«
Auf den Lärm hin kam die Großmutter aus der Stube,
und Rico ging gleich zu ihr und sagte: »Großmutter,
kann ich gehen und dem Lehrer danken, auch wenn er krank
ist?«
Die Großmutter besann sich ein wenig; denn der Lehrer
hatte schon am Morgen sehr krank ausgesehen; dann sagte sie:
»Wart ein wenig, Rico, ich will mit dir gehen«, und
ging, eine saubere Schürze anzuziehen. Dann wanderten sie
miteinander dem Schulhaus zu. Die Großmutter trat zuerst ein.
Rico kam ihr leise nach, die Geige im Arm; denn diese hatte er noch
keinen Augenblick weggelegt, seit sie ihm gehörte.
Der Lehrer lag sehr matt da. Rico trat an das Bett heran und
schaute dabei auf seine Geige und konnte nichts sagen, aber seine
Augen funkelten so, daß der Lehrer ihn wohl verstanden hatte.
Er warf einen frohen Blick auf den Knaben und nickte ihm zu. Dann
winkte er die Großmutter zu sich heran. Rico trat auf die
Seite, und der Lehrer sagte mit schwacher Stimme:
»Großmutter, es wäre mir recht, wenn Ihr mir ein
Vaterunser beten wolltet; mir wird so bang.«
Jetzt hörte man die Abendglocken herüberläuten;
Rico faltete schnell die Hände, und die Großmutter
faltete die ihrigen und sie betete das Vaterunser. Dann wurde es
ganz still in der Stube. Die Großmutter beugte sich ein wenig
und drückte dem alten Mann die Augen zu; denn er war
verschieden. Dann nahm sie Rico an der Hand und ging leise mit ihm
hinaus.
Am Silsersee
Stineli kam in dieser Woche vor Freude nicht mehr ins
Gleichgewicht; aber ihr schien auch, als sei die Woche länger
als sonst; denn es wollte gar nicht Sonntag werden.
Als er aber endlich gekommen war und eine goldene Sonne
über die Herbsthöhen leuchtete, und sie mit Rico oben
unter den Tannen stand, und der glitzernde See vor ihnen lag, da
kam eine solche Freude über Stineli, daß sie rings im
Moos herumhüpfen und jauchzen mußte. Dann setzte sie
sich auf den äußersten Rand am Abhang, daß sie
alles sehen konnte: die sonnigen Höhen und den See und weit
hinüber den blauen Himmel.
Nun rief sie: »Komm Rico, nun wollen wir singen, lang,
lang!«
Rico setzte sich neben Stineli und machte seine Geige zurecht,
die er mitgenommen hatte.
Nun fing er an zu spielen und die Kinder sangen:
ihr Schäflein, hinunter Von sonniger Höh
Und sie sangen alle Verse durch; aber Stineli hatte noch lange
nicht genug. »Wir wollen immer weiter singen«, sagte
sie und sang weiter:
»Ihr Schäflein, hinüber auf die lustige
Höh.
Die Sonne steht drüber und der Wind geht am See.
»Sing noch weiter!« Stineli war ganz begeister vor
Freude und schaute auf und ab, und sang wieder:
»Und die Schäflein, und die Schäflein, Und der
Himmel so blau, Und rot und weiße Blumen Auf der
grasgrünen Au!«
Rico geigte und sang mit und sagte: »Sing noch
weiter!« Seneli sah Rico lachend an und sang:
»Und ein Bub ist so traurig, Und ein Mädle, das
lacht, Und ein See ist wie der andre Von Wasser gemacht.«
Rico lachte auch und sang und sagte: »Sing noch
weiter!« Da fing Stineli noch einmal an und sang
hintereinander, und Rico geigte immerfort:
Und die Schäflein? und die Schäflein, Die springen
herum, Und sind alleweil fröhlich, Und wissen auch nicht
warum.
Und ein Bub und ein Mädle, Die sitzen am See, Und tät
er nichts denken, So tät's ihm nicht weh.«
Und nun fingen sie wieder von vorn an und sangen ihr Lied
hintereinander durch. Sie hatten ein großes Wohlgefallen
daran, und wenn sie es fertig gesungen hatten, so begannen sie noch
einmal, und dann noch einmal. Sie sangen das Lied wohl zehnmal
durch, und je mehr sie es sangen, desto besser gefiel es ihnen.
Rico spielte dann noch einige Melodien, die er vom Vater her
wußte, aber nach einer Weile kamen sie wieder auf ihr Lied
zurück und sangen aufs neue.
Aber mitten drin hörte Stineli auf und rief: »Jetzt
kommt es mir in den Sinn, wie du an den See hinunter kannst und
doch kein Geld brauchst.«
Rico hielt plötzlich inne und schaute erwartungsvoll auf
Stineli.
»Siehst du«, fuhr sie eilig fort, »jetzt hast
du eine Geige und kannst ein Lied. Da mußt du bei jedem
Wirtshaus unter die Stubentür gehen und das Lied singen und
geigen; dann geben dir die Leute etwas zu essen und lassen dich in
ihrem Haus schlafen; denn sie sehen, daß du kein Bettler
bist. So kannst du gehen bis an den See, und auf dem Heimweg kannst
du es wieder so machen.«
Rico wurde ganz nachdenklich, doch Stineli ließ ihm keine
Zeit, zum Nachdenken, sie wollte noch einmal singen.
Vor lauter Singen hörten sie auch die Abendglocke nicht,
und erst als es zu dunkeln anfing, merkten sie, daß es Zeit
war heim-zugehen. Schon von fern sahen sie die Großmutter,
wie sie ängstlich umherschaute.
Stineli war zu sehr in Begeisterung, um von einer Besorgnis
gedämpft zu werden. Sie rannte auf die Großmutter zu und
rief: »Du kannst nicht glauben, Großmutter, wie gut der
Rico geigen kann, und wir haben jetzt ein eigenes Lied, nur
für uns. Wir wollen dir's gleich singen.«
Ehe die Großmutter nur ein Wort sagen konnte, sangen sie
schon mit heller Stimme zu der Geige ihr ganzes Lied durch, und die
Großmutter hörte die frischen Stimmen gerne. Sie setzte
sich auf das Holz, und als die Kinder zu Ende waren, sagte sie:
»Komm, Rico, jetzt mußt du mir noch ein Lied spielen,
und wr wollen es miteinander singen. Kannst du das Lied: »Ich
singe dir mit Herz und Mund?«
Rico hatte es vielleicht schon gehört, aber er wußte
es nicht mehr recht und meinte, erst müsse es die
Großmutter einmal singen; dann wolle er leise nachgeigen, und
nachher könne er's.
«Jetzt werd? ich noch Vorsinger mit meiner
Zitterstimme«, sagte die Großmutter, aber sie sang
vergnügt einen Vers durch, und wenn die Stimme ein wenig
zitterte, so war sie doch ganz richtig, und Rico konnte die Melodie
gut nachspielen.
Sie begannen, und vor jedem Vers sagte die Großmutter den
Kindern die Worte vor, und so sangen sie fröhlich alle
miteinander:
»lch singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens
Lust. Ich sing und mach auf Erden kund, Was mir von dir
bewußt.
Ich weiß, daß du der Brunn der Gnad Und ewge Quelle
bist. Daraus uns allen früh und spat Viel Heil und Gutes
fließt.
Was kränkst du dich in deinem Sinn? Und grämst dich
Tag und Nacht? Nimm deine Sorg und wirf sie hin Auf den, der dich
gemacht.
Er hat noch niemals was versehn In seinem Regiment, Nein, was er
tut und läßt geschehn Das nimmt ein gutes End.
Ei nun, so laß ihn ferner tun Und red ihm nicht darein, So
wirst du hier im Frieden ruhn Und ewig fröhlich sein.
»So«, sagte die Großmutter zufrieden,
»das war ein rechter Abendsegen, jetzt könnt ihr in
Frieden zur Ruhe gehen, Kinder.«
Ein rätselhaftes Ereignis
Als Rico in das Häuschen eintrat, später als sonst,
denn über dem Gesang war wohl eine halbe Stunde vergangen,
schoß ihm die Base entgegen.
»Fängst du jetzt so an?« rief sie. »Das
Essen stand eine Stunde lang auf dem Tisch, jetzt ist's fort.
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