Geh
nur gleich in deine Kammer, und wenn du ein ganzer Vagabund und
Lump wirst, so bin ich nicht schuld. Ich will lieber irgendetwas
anderes tun, als einen Buben hüten, wie du einer
bist.«
Rico hatte nie ein einziges Wörtchen geantwortet, wenn die
Base ihn schmähte, aber an diesem Abend schaute er sie an und
sagte: »Ich kann dir schon aus dem Wege gehen,
Base.«
Sie schob den Riegel an der Haustür vor, daß es
krachte, dann schoß sie in die Stube hinein und schlug die
Tür hinter sich zu. Rico ging in seine dunkle Kammer
hinauf.
Am folgenden Tage, als drüben die ganze große
Haushaltung, Eltern, Großmutter und alle Kinder beim
Abendessen saßen, kam die Base herübergelaufen und rief
in die Stube hinein, ob sie etwas von Rico wüßten; sie
wisse nicht, wo er sei.
»Der wird schon kommen, wenn's ans Abendessen geht«,
antwortete der Vater geruhlich.
Die Base kam ganz in die Stube hinein; denn sie hatte gedacht,
sie könne den Buben nur herausrufen, er werde wohl da sein.
Nun erzählte sie, er sei schon zum Morgenessen nicht gekommen
und zum Mittagessen nicht, und im Bett sei er auch nicht gewesen;
das sei noch wie gestern. Sie glaube fast, der sei schon am
frühesten Morgen vor Tag auf seine Lumpereien ausgegangen;
denn der Riegel sei schon inwendig von der Haustür
weggeschoben gewesen, als sie auftun wollte. Zuerst sei ihr der
Gedanke gekommen, sie selbst habe versehentlich vergessen,
zuzuriegeln; denn kein Mensch wisse, was sie für Ärger
herumtragen müsse.
»Da ist was Übles geschehen«, sagte der Vater,
unentwegt ruhig. »Er wird in eine Spalte hineingefallen sein,
am Berg oben; das gibt es manchmal mit so schmalen Buben, die
überall herum-klettern. Ihr hättet es ein wenig
früher sagen sollen«, fuhr er langsam fort, »man
wird ihn suchen müssen, und des Nachts sieht man
nichts.«
Jetzt fuhr die Base los und machte einen furchtbaren Lärm.
Sie habe wohl gedacht, man werde ihr noch Vorwürfe machen
wollen; so gehe es immer, wenn man schon jahrelang soviel ertragen
und dazu geschwiegen habe.
»Kein Mensch sieht ihm an«, rief sie aus und glaubte
damit eine große Wahrheit zu sagen, »was für ein
heimtückischer, hinterlistiger, verstockter Bube der ist, und
wie er mir das Leben schwer gemacht hat seit vier Jahren. Ein
Vagabund wird er, ein Landstreicher und schändlicher
Lump!«
Die Großmutter hatte schon lange aufgehört zu essen.
Sie war vom Tische aufgestanden und vor die Base hingetreten, die
immer noch lärmte. »Hört auf, Nachbarin, hört
auf«, mußte die Großmutter zweimal sagen, bevor
die andere nachgab. »Ich kenne den Rico auch; seit man das
Büblein seiner Großmutter brachte, habe ich es immer
gekannt. Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich kein
Wörtlein mehr sagen, aber ein wenig nachsinnen, ob das
Büblein, dem ein Unglück begegnet sein kann, und das
vielleicht schon da droben steht vor dem lieben Gott, niemanden
anzuklagen hat, der schweres Unrecht an ihm getan hat mit
bösen Worten.«
Der Base war es schon ein paarmal aufgestiegen, wie Rico sie am
Abend angeschaut und gesagt hatte: »Ich kann dir schon aus
dem Wege gehen.« Sie hatte auch so furchtbar gelärmt, um
diese Gedanken zu übertönen. Sie mochte die
Großmutter nicht ansehen und sagte, sie müsse gehen,
vielleicht sei Rico doch nun heimgekommen, was sie jetzt gern
gesehen hätte.
Von dem Tage an sagte die Base nie mehr ein Wort gegen Rico vor
der Großmutter, aber auch sonst sprach sie nicht mehr
viel.
Sie glaubte, wie alle anderen Leute auch, Rico sei tot und war
froh, daß niemand wußte, was er am letzten Abend zu ihr
gesagt hatte.
Am Morgen nach der Nachricht ging Stinelis Vater in die Tenne
hinaus und suchte eine Stange. Er hatte gesagt, er wolle ein paar
Nachbarn rufen, man müsse doch den Buben suchen, etwa gegen
den Gletscher zu und oben bei den Felsspalten.
Stineli war ihm nachgeschlichen, und der Vater sagte: »Es
ist recht, komm, hilf mir suchen, du kannst besser in die Winkel
hinein als ich.«
Erst als eine hohe Bohnenstange gefunden war, sagte sie:
»Aber Vater, wenn Rico vielleicht der Straße
nachgegangen wäre, dann könnte er doch in nichts
hineingefallen sein?«
»Freilich kann er«, entgegnete der Vater.
»Solch unvernünftige Buben kommen vom Weg ab und in die
Klüfte hinein, sie wissen gar nicht, wie. Er war ein
Träumer.«
Daß Rico dies war, wußte Stineli besser als irgend
jemand, und von dem Augenblick an kam eine große Angst in ihr
Herz und wuchs mit jedem Tage, so daß sie vor Qual und Unruhe
nicht mehr essen und nicht mehr schlafen konnte und alle Arbeit
tat, als wäre sie nicht dabei.
Rico wurde nicht gefunden. Kein Mensch hatte etwas von ihm
gesehen. Man suchte ihn nicht mehr, und bald fanden die Leute einen
Trost und sagten: »Es ist dem Waisenbüblein wohl
geschehen, es war doch verlassen und hatte niemand mehr.«
Ein wenig Licht
Aber Stineli wurde stilier und magerer von Tag zu Tag. Die
kleinen Kinder schrien: »Stineli will nichts erzählen
und lacht nicht mehr.« Die Mutter sagte zum Vater:
»Siehst du's denn nicht? Sie ist ja nicht mehr die
gleiche.«
Und der Vater sagte: »Es kommt vom Wachsen, man muß
ihr morgens ein wenig Geißmilch geben.«
Als drei Wochen vergangen waren, nahm die Großmutter eines
Abends Stineli in ihre Kammer hinauf und sagte: »Sieh,
Stineli, ich kann es wohl begreifen, daß du Rico nicht
vergessen kannst, aber du mußt doch denken, daß der
liebe Gott ihn weggenommen hat, und wenn es so sein mußte, so
war es gut für Rico, das werden wir später noch
einsehen.«
Da fing Stineli so zu weinen an, wie es die Großmutter nie
an ihr erlebt hatte, und sie schluchzte überlaut: »Der
liebe Gott hat es ja nicht getan, ich bin ja schuld,
Großmutter. Darum muß ich fast sterben vor Angst; denn
ich habe Rico angestiftet, an den See hinabzugehen, und nun ist er
in die Schluchten hineingefallen und ist tot, und es hat ihm so weh
getan, und ich bin an allem schuld.« Und Stineli weinte und
schluchzte zum Erbarmen.
Der Großmutter fiel eine schwere Last vom Herzen; sie
hatte Rico verloren gegeben, und heimlich hatte sie der
quälende Gedanke verfolgt, das arme Büblein sei der
bösen Base entlaufen und liege vielleicht drüben im
Wasser, oder sei im Wald zugrundegegangen. Jetzt stieg auf einmal
eine neue Hoffnung in ihr auf.
Sie beruhigte Stineli soweit, daß diese ihr die Geschichte
von dem See erzählen konnte, von der sie nichts wußte:
wie Rico immer von dem See gesprochen und es ihn dahin gezogen
hatte, und wie Stineli den Weg auffand. Sie war ganz sicher,
daß Rico dahin gewandert wäre; aber des Vaters Worte von
den Fels-spalten hatten Stineli um alle Hoffnung gebracht.
Die Großmutter nahm das Kind bei der Hand und zog es zu
sich heran. »Komm, Stineli«, sagte sie liebreich,
»ich muß dir nun etwas erklären. Weißt du,
wie's in dem alten Liede heißt, das wir noch mit Rico
gesungen haben am letzten Abend«
Denn was er tut und läßt geschehn, Das nimmt ein
gutes End.
Du hast etwas recht Verkehrtes getan, das wirst du jetzt
für dein Lebtag wissen, und was geschehen kann, wenn Kinder in
die Welt hinauslaufen und Sachen unternehmen wollen, die sie gar
nicht kennen, und niemand ein Wort davon sagen. Aber nun hat das
der liebe Gott so geschehen lassen, und nun dürfen wir
bestimmt hoffen, daß alles noch ein gutes Ende nimmt.
Jetzt denk daran, Stineli, und vergiß nie mehr, was du da
erfahren hast. Weil es dir aber recht von Herzen leid ist, so
darfst du jetzt auch den lieben Gott bitten, daß er doch noch
etwas Gutes mache aus dem verkehrten Zeug, das ihr da angestellt
habt, du und der Rico. Dann darfst du auch wieder fröhlich
sein, Stineli, und ich bin es mit dir; denn ich glaube
zuversichtlich, daß Rico noch am Leben ist, und daß ihn
der liebe Gott nicht verläßt.«
Von dem Tage an wurde Stineli wieder munter, und wenn ihr auch
Rico überall fehlte, so hatte sie doch keine Angst mehr und
auch keine Vorwürfe mehr im Herzen. Tag für Tag schaute
sie nach der Straße hinüber, ob nicht etwa Rico dort vom
Malojapaß herunterkomme. So ging die Zeit dahin, aber von
Rico hörte man nichts mehr.
Eine lange Reise
Rico hatte sich an jenem Sonntagabend in seiner dunklen Kammer
auf seinen Stuhl gesetzt. Da wollte er bleiben, bis die Base zu
Bett gegangen war.
Nachdem Stineli die Entdeckung gemacht hatte, wie die Reise nach
dem See auszuführen wäre, kam Rico die Sache so leicht
vor, daß er sich nur noch besinnen wollte, wann er am besten
gehen könne; denn er hatte das Gefühl, die Base
würde ihn vielleicht zurückhalten, obwohl er wußte,
daß er ihr nicht fehlen würde.
Als sie dann beim Heimkommen so auf ihn losschalt, dachte er:
»Ich werde gehen, sobald sie im Bett ist.«
Als er nun so im Dunkeln auf seinem Stuhl saß, dachte er
nach, wie angenehm es sein würde, wenn er nun so viele Tage
lang die Base nie mehr werde schelten hören, und welch
große Büschel von den roten Blumen er Stineli mitbringen
wolle, wenn er zurückkomme. Und dann sah er die sonnigen Ufer
und die violetten Berge vor sich und war plötzlich
eingeschlafen.
Er schlief aber nicht bequem, denn die Geige hatte er nicht aus
der Hand gelegt. So erwachte er wieder nach einiger Zeit ,es war
aber noch ganz dunkel.
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