Nun kam ihm aber gleich alles klar in den
Sinn. Er war noch in seinem Sonntagswämschen, das war gut. Die
Mütze hatte er noch von gestern her auf dem Kopf. Er nahm die
Geige unter den Arm und ging leise die Treppe hinunter, schob den
Riegel weg und zog in die kühle Morgenluft hinaus.
Über den Bergen fing es schon leise an zu tagen, und in
Sils krahten die Hähne. Er ging tüchtig drauflos, damit
er von den Häusern weg und auf die große Straße
komme. Nun war er da und wanderte vergnügt weiter; denn ihm
war alles so wohlbekannt, er war oft mit dem Vater da
hinaufgegangen. Wie lange man aber gehen mußte, um auf den
Malojapaß zu kommen, wußte er nicht mehr genau, und der
Weg schien ihm unendlich zu sein, als er schon mehr als zwei
Stunden immerfort gewandert war.
Nun kam nach und nach der helle Tag, und als er nach noch einer
guten Stunde auf dem Platz vor dem Wirtshaus oben am Maloja
angekommen war, wo er oft mit dem Vater die Straße
hinuntergeschaut hatte, da lag ein sonniger Morgen über den
Bergen, und die Tannenwipfel waren alle wie von Gold. Rico setzte
sich an den Rand der Straße nieder. Er war schon recht
müde, und nun merkte er auch, daß er nichts mehr
gegessen hatte seit dem vorhergehenden Mittag. Aber er war nicht
verzagt; denn nun ging es bergab, und nachher konntc
unversehens
der See kommen. Wie er so dasaß, kam der große
Postwagen herangerasselt; den hatte er schon oft gesehen, wenn er
bei Sils vorbeifuhr, und immer dabei gedacht, das höchste
Glück auf Erden genieße ein Kutscher, der immerfort mit
einer Peitsche auf einem Bock sitzen und fünf Rosse regieren
könne. Nun sah er einmal den Glücklichen in der
Nähe, denn der Postwagen hielt still. Rico verwandte kein Auge
von dem merkwürdigen Mann, der von seinem hohen Sitz
herunterkam, ins Wirtshaus eintrat und mit mehreren großen
Stücken Schwarzbrot, auf denen sehr große Brocken
Käse lagen, wieder aus dem Haus trat. Nun zog der Kutscher ein
festes Messer hervor und zerstückte sein Brot, und einem Pferd
nach dem anderen steckte er einen guten Bissen ins Maul.
Zwischenhinein kam er selbst an die Reihe, auf sein Stück Brot
kam aber immer ein großes Stück Käse. Wie sie nun
alle zusammen so vergnüglich aßen, schaute der Kutscher
ein wenig um sich, und mit einem Male rief er: »He, kleiner
Musikant, willst du auch mithalten? Komm her!«
Seit Rico das Brot und den Käse gesehen hatte, meldete sich
der Hunger gewaltig. Er folgte gern der Einladung und trat zu dem
Kutscher heran. Der schnitt ihm ein ganz erstaunlich großes
Stück Brot, so daß Rico kaum wußte, wie er die
Dinge bewältigen sollte.
Er mußte seine Geige ein wenig auf den Boden legen. Der
Kutscher schaute wohlgefällig zu, wie Rico in sein
Frühstück biß, und während er selbst sein
Geschäft fortsetzte, sagte er:
»Du bist noch ein kleiner Geiger, kannst du auch
etwas?«
»Ja, zwei Lieder, und dann noch das vom Vater«,
antwortete Rico.
»So, und wohin willst du denn auf deinen zwei kleinen
Beinen?« fuhr der Kutscher fort.
»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos ernsthafte
Antwort.
Jetzt entfuhr dem Kutscher ein so kräftiges Gelächter,
daß Rico ganz erstaunt zu ihm auf sah.
»Du bist ein guter Fuhrwerker, du«, lachte der
Kutscher noch einmal; »weißt du denn nicht, wie weit
das ist, und daß ein schmales Musikantenbüblein, wie du
eins bist, sich beide Füße mitsamt den Sohlen
durchlaufen würde, bevor es noch einen Tropfen Wasser vom
Gardasee gesehen hätte? Wer schickt dich denn dort
hinunter?«
»Ich gehe aus mir selber«, sagte Rico
»Solch Bürschlein ist mir noch nicht
vorgekommen«, lachte der Kutscher gutmütig. »Wo
bist du daheim, Musikant?«
»Ich weiß es nicht recht, vielleicht am
Gardasee«, erwiderte Rico völlig ernsthaft.
»Ist das eine Antwort!« Jetzt schaute der Kutscher
den Knaben vor sich genau an. Wie ein verlaufenes
Bettelbüblein sah Rico nicht aus. Der schwarze Lockenkopf
über dem Sonntagswämschen und das feine Gesichtchen mit
den ernsthaften Augen waren fein gebildet, und man schaute ihn
gerne immer wieder an.
Dem Kutcher mochte es auch so gehen. Er sah den Rico fest an und
dann noch einmal, dann sagte er freundlich: »Du trägst
deinen Paß auf dem Gesicht mit, Büblein, und es ist kein
schlechter, wenn du schon nicht weiß, wo du daheim bist. Was
gibst du mir nun, wenn ich dich neben mich auf den Bock nehme und
dich weit hinunterbringe?«
Rico staunte, als wäre es fast nicht möglich,
daß der Mann diese Worte wirklich ausgesprochen habe. Auf dem
hohen Post-wagen ins Tal hinunterfahren, ein solches Glück
hätte er nie für möglich gehalten. Aber was konnte
er dem Kutscher geben?
»Ich habe gar nichts als eine Geige, und die kann ich
nicht hergeben«, sagte Rico traurig nach einigem
Besinnen.
»Ja, mit dem Kasten wüßte ich auch nichts
anzufangen«, lachte der Kutscher. »Komm, nun sitzen wir
auf, - und du kannst mir ein wenig Musik machen.«
Rico traute seinen Ohren nicht; aber wahrhaftig! Der Kutscher
schob ihn über die Räder auf den hohen Sitz hinauf und
kletterte nach. Die Reisenden waren wieder eingestiegen, der Wagen
wurde zugeschlagen, und nun ging's die Straße hinunter, die
bekannte Straße, die Rico so oft von oben her angeschaut
hatte, verlangend, da hinunter zu kommen. Nun war die
Erfüllung da, und in welcher Weise! Hoch oben zwischen Himmel
und Erde flog Rico dahin und konnte immer noch nicht recht glauben,
daß er es selber sei.
Den Kutscher wunderte es nun doch ein wenig, wem das
Büblein neben ihm gehören könnte.
»Sag mir einmal, du kleine fahrende Habe, wo ist denn dein
Vater?« fragte er nach einem lauten Peitschenknall.
»Der ist tot«, antwortete Rico.
»So, und wo ist deine Mutter?«
»Die ist tot.«
»So, und dann hat man noch einen Großvater und eine
Großmutter, wo sind diese?« »Die sind
tot.«
»So, so, aber etwa einen Bruder oder eine Schwester hast
du ja sicher; wo sind die hingekommen?« »Sie sind
tot«, war Ricos fortwährende Antwort.
Als der Kutscher sah, daß da alles tot war, ließ er
die Verwandtschaft in Ruhe und fragte nur: »Wie hieß
dein Vater?«
»Enrico Trevillo von Peschiera am Gardasee«,
erwiderte Rico.
Nun legte der Mann sich die Dinge ein wenig zurecht und dachte:
das ist ein verschlepptes Büblein von da unten herauf, und es
ist gut, daß es wieder an seinen Heimatort kommt.
Als nach der ersten steil abwärts gehenden Strecke der
Bergstraße der Weg etwas ebener wurde, sagte der Kutscher:
»So, Musikant, nun spiel einmal ein lustiges Liedlein
auf.«
Da nahm Rico die Geige vor und war so wohlgemut da oben auf
seinem Thron, unter dem blauen Himmel hinfahrend, daß er mit
der hellsten Stimme anfing und kräftig drauflos sang:
»Ihr Schäf1ein, hinunter von sonniger Höh.
Nun saßen zuoberst auf dem Postwagen drei Studenten, die
machten eine Ferienreise, und als nun das Lied weiterging und Rico
mit viel Lust und Fröhlichkeit Stinelis Verse sang, gab es auf
einmal oben auf dem Wagen ein lautes Hallo und Gelächter, und
die Studenten riefen: »Halt, Geiger, fang noch einmal an, wir
singen auch mit.«
Rico begann neu, und nun fielen die Studenten ein und sangen mit
aller Macht:
»Und die Schäflein, und die Schäflein? -
Und dazwischen lachten sie so sehr, daß man nichts mehr
hörte von Ricos Geige, und dann sangen sie wieder und einer
sang zwischenhinein ganz allein:
»Und tät er nichts denken So tät ihm nichts
weh!«
Dann fielen die anderen wieder ein und sangen so laut sie
konnten:
Und die Schäflein, und die Schäflein
Und so ging es eine ganze Weile fort, und wenn Rico einmal
innehielt, riefen sie: »Weiter, Geiger, nicht
aufhören!« und warfen ihm kleine Geldstücke zu,
immer wieder, so daß er einen ganzen Haufen in der Mütze
hatte.
Die Reisenden im Wagen machten die Fenster auf und steckten die
Köpfe heraus, um den frohen Gesang zu hören. Dann fing
Rico von neuem an, und die Studenten brachen von neuem los und
teilten das Lied in Soli und Chöre. Da sang die Solostimme
ganz feierlich:
Und ein See ist wie ein andrer Von Wasser gemacht
Und dann wieder:
Und tät er nichts denken, So tät ihm nichts weh -
Und dazwischen fiel der Chor ein, und sie sangen mit aller
Kraft:
Und die Schäflein, und die Schäflein -
Nachher wollten sie sich wieder totlachen und konnten eine ganze
Weile nicht fortfahren vor Gelächter.
Aber nun hielt auf einmal der Kutscher an, denn das Mittagessen
mußte eingenommen werden.
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