Erinnerungen an Stilliegen und Sichwohltunlassen. Erinnerungen an durchgewartete Stunden, über dem Blättern in alten Abbildungen, über dem Lesen irgendwelcher Romane –: und solche Erinnerungen haufenweise bis in die Kindheit hinein. Ganze Gebiete des Lebens verloren, selbst für das Wiedererzählen verloren durch die Verführung, die immer noch von ihrer Müßigkeit ausgehen kann. Warum? Hätte man nur Arbeitserinnerungen von früh an: wie fest wäre es unter einem; man stünde. So aber sackt man jeden Moment wo hinein. Daß es so auch in einem: zwei Welt ist, das ist das Schlimmste. Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei in der rue de Seine etwa. Händler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder Kupferstichverkäufer mit überfüllten Schaufenstern. Nie tritt jemand bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschäfte. Sieht man aber hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken.
Ach, wenn das genügte: ich wünschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen für zwanzig Jahre. Am Abend wäre Licht in der Hinterstube, vorn alles ganz dunkel, und wir säßen zu dritt und äßen, hinten; ich habe bemerkt, von der Straße aus gesehen, nimmt sich das wie ein Abendmahl aus jedesmal, so groß und feierlich durch den dunklen Raum.
Briefe I (Clara Rilke, 4. 10. 1907), 180-182
Mein Verhängnis, immer das gleiche, schließt mich manchmal so völlig ein und ab, daß ich wie unter einem Schutthaufen athme und nur durch kleine Fugen hinaussehe in's Offene und Harmlose; aber man sagt ja, wer in einen trockenen Brunnen gefallen ist, sehe aus dem Loch unten, wenn er nur die Gleichmuth hat und den Einfall ruhig hinaufzusehen, die Sterne in eigenthümlicher Klarheit. Und manchmal seh ich sie wirklich, von dem Zufall meines Elends aus, eigenthümlich klar. Sehe und erkenne überhaupt vieles und Herrlichstes, aber so seltsam über mich fort und so, daß es mir nicht zur Hülfe ausschlägt. Alles aber, was ich zu meiner eigenen Rettung überlege, Paris nicht ausgenommen, scheint mir zu neuen Konflikten zu führen und zu Zerstreuungen, die ich irgendwie noch mehr fürchte, als diese Heimsuchung, die ja nur entstanden ist, weil ich mich vor anderen Möglichkeiten sichern und schützen wollte … Die Hülfe, wenn mir eine gewährt sein soll, müßte aus derselben Quelle kommen wie die Gnade zu einem großen Gedicht, ein Mensch scheint mir fast unfähig sie zu bringen, sie müßte ihm denn, ohne daß er es ahnt, anvertraut sein. Dieser zerrissene Herbst trägt so viel dazu bei, alles schwerer zu machen; in dieser Jahreszeit eine gewisse Ruhe und Sättigung wahrzunehmen, die ganze Ergeblichkeit des Sommers in der stillen befriedigten Last der Früchte anzuschauen, anzufassen, – das ist fast mehr, als der Antheil am Sommer selbst, der uns nie ganz in sich hinein bezieht. Der Herbst erst, wenn er seine Abschlüsse macht, stellt eine Art Gleichung her, ein Gleichnis, in dem der vorkommt, der gesäet und gejätet, gewartet und aufgebunden hat, der Geduldige, der Hoffende. Heuer sind Sommer und Herbst wie riesige Spiegel, durch die ein Sprung gegangen ist: und nun weiß man nicht, ob dieses Zerschlagensein das Bild des Weltalls verzerrt, oder ob es sich wirklich seltsam entstellt darüberneigt. Verfrüht, in eigenthümlicher Hast, haben die Zugvögel sich versammelt, aufgeregt, als ob sie sich Gerüchte mitzutheilen hätten, die Berathung war kurz, die Vorübung eilig –, und als wollten sie nicht wiederkommen, fast ohne Abschied, stoben sie in die unstäten Lüfte hinaus. Die Früchte fühlten sich nicht wohl im Reifen und baten, von den Bäumen genommen zu sein, wie ein Kind, das, plötzlich vorfiebernd, nicht im Bad bleiben will oder auf seinem lieben Schaukelpferd. Und die Weinlese, ach, die Weinlese, die es hier, vor lauter Angefülltsein in den tausend Trauben bis zur Körperlichkeit bringt sonst –, diese starke nackte Person, deren Lachen aus dem Glanz von Trauben gemacht ist, – sollte man sie beschreiben, diese arme vendange, wie sie heuer aussieht: ein halbwüchsiges kümmerliches Geschöpf, ein bischen idiotisch, in zerfetzten Wolken dastehend und jämmerlich an ihen paar Trauben klaubend, die sich in sich zurückgenommen haben seit Wochen. Soviel, Liebe, von uns, dem Wallis und mir, im Herbste 1924, einer uns recht gemeinsamen Jahreszeit.
Wunderly II (4. 10. 1924), 1022f.
Weinbergterrassen, wie Manuale:
Sonnenanschlag den ganzen Tag.
Dann von der gebenden Rebe zur Schale
überklingender Übertrag.
Schließlich Gehör in empfangenen Munden
für den vollendeten Traubenton.
Wovon ward die tragende Landschaft entbunden?
Fühl ich die Tochter? Erkenn ich den Sohn?
Werke II, 147
Guten Herbst. Auch hier strahlts heute nochmal, nur sind die Bäume schon sehr weit, in der Stadt sah ich einige leere. Und vor dem Winter fürcht ich mich, ich kanns nicht leugnen.
Vollmoeller (17. 9. 1915), 124
Bangnis
Im welken Walde ist ein Vogelruf,
der sinnlos scheint in diesem welken Walde.
Und dennoch ruht der runde Vogelruf
In dieser Weile, die ihn schuf,
breit wie ein Himmel auf dem welken Walde.
Gefügig räumt sich alles in den Schrei:
Das ganze Land scheint lautlos drin zu liegen,
der große Wind scheint sich hineinzuschmiegen,
und die Minute, welche weiter will,
ist bleich und still, als ob sie Dinge wüßte,
an denen jeder sterben müßte,
aus ihm herausgestiegen.
Werke I, 396
Meine liebe Fürstin,
mein Schweigen ist nicht Trägheit und nicht Herzensvergeßlichkeit, – es ist eine Verzauberung, in der ich immer erstarrter drin stehe, Salzsäule oder Stein, ich weiß nicht, was ich noch werden soll. Die Briefe häufen sich auf meinem Schreibtisch, aber mir scheinen unbeschreibliche Kräfte nöthig, um eine Feder in Bewegung zu setzen, ein ganzes Räderwerk.
1 comment