Und doch, ich könnte mir keinen Menschen denken, mit dem ich mich in diesem Elend vertrüge, das auch der liebevollste Mitwisser mir noch evidenter machen würde, so wie ich einmal bin. Der andere nöthigt ja doch ein ›Ich‹ sich zu manifestieren –, durch Lust und Unlust oder was es auch sei. Ich bin wie eine leere Stelle, ich bin nicht, ich bin nicht einmal identisch mit meiner Noth, die ich nur bis zu einem gewissen Grad legitimieren kann. Da mir das Sprechen wegen der Mundverhältnisse (die Störungen und die gewisse Phobie sind immer die gleichen) mühsam ist, kann ich nichtmal laut Lesen, was mir sonst immer am Meisten zu mir hilft. Wie ich mit der Welt durch Aug und Geruch verkehre, so ist mein Selbstumgang zu einem großen Theil aufs Mich-Hören gestellt, diese Hemmung verwirrt mich unendlich, und mein Aufstehen jeden Morgen zu diesem Leben hat keinen Schwung. Genug, Liebe, lassen wir's. Ich steh in einem Gericht, die Richter berathen, das Urtheil steht noch aus.
Wunderly II (10. 11. 1925) 1073f.
Ich kam – Sie errathen nicht, woher –, liebe Fürstin, – – ich kam aus Paris, wo ich, ebenso unvermuthet, sechs Tage zugebracht habe, unbeschreibliche Herbsttage, herrliche, – und es war (ich wohnte im alten, aber angenehm restaurierten Foyot, dem Luxembourg-Garten gegenüber) es war in einem alle Erwartung weit übertreffenden Maaße – mein Paris, das ehemalige, ich möchte sagen: ewige. Wer jetzt dort vorwiegend die rive droite besucht, auf persönliche Anknüpfungen, überhaupt auf das Gesellige und Gesprächliche angewiesen wäre, der würde sicher manche betrübliche und entstellende Veränderung zuzugeben haben. Ich aber habe das eigentümliche Glück, durch die Dinge zu leben, und soweit von denen und aus der intensiven Luft Einfluß zu mir herüberkam, wars der alte, unbeschreibliche, derselbe, dem ich seit fast zwanzig Jahren meine beste und entschlossenste Verfassung zu verdanken hatte. Ich kann nicht sagen (aber Sie werden's errathen!) mit welcher Bewegung ich diese Anschlüsse genoß, wie ich mich an hundert intime Bruchflächen anhielt, an die anzuheilen nun nur noch eine Sache der Hingebung war. Und an ihr, glauben Sie nur, hat es mir nicht gefehlt.
Taxis II (19. 11. 1920), 624
Wie anders Paris! Denn, denk nur, Lou, ich war dort! sechs Tage, Ende Oktober. Da war von keiner Wiederholung die Rede. Das Herz kam wohl auch dem Dortigen mit seinen Bruchstellen entgegen, aber die Anheilung vollzog sich in der ersten Stunde, und von da ab stürzte der Strom der hunderttausend Verwandlungen, neu und alt, unerhört und unbenennbar, durch den großen Kreislauf des endlich hergestellten Bewußtseins. Diese Tage! Es war Herbst, von jener pariser Pracht der Himmel und des Lichts, die diese Jahreszeit der Natur steigert um die Jahreszeit einer längst Natur gewordenen Stadt: welche Überflüsse im Licht, welche Durchdringlichkeit der Dinge, die sich atmosphärisch durchschwingen ließen und diese Vibrierung weitergaben, welche Einheit von Gegenstand und Gegenüber, Nähe und Tiefe der Welt, – welches Neusein der Morgen, welches Alter der Wasser, welche Zärtlichkeit und Fülle des Winds, obwohl er durch Straßen kommt. Und diese Straßen: oh sie waren nicht weniger geworden, nichts war unterdrückt, vermindert, entstellt oder auswählig geordnet –: sie besaßen ihre alte Vollzähligkeit, ihr Strömen, ihr ununterbrochenes Geschehen, ihre an allen Stellen spielende nirgends versagende Erfindung. Menschen kamen mir entgegen: ich erkannte sie, den und jenen, die mir an den gleichen Stellen, etwa der rue de Seine, seit soviel Jahren begegnet waren: sie hatten überstanden. Einer trug die gleiche Kravatte. Ich erkannte die Händler in den Geschäften, kaum gealtert –, die Zeitungsfrauen in den Kiosken, – ja, der Blinde auf dem Pont du Carrousel, um dessen Leben ich schon im Winter 1902 besorgt gewesen war –, stand, verregnet und grau, an seiner Stelle: ich kann Dir nicht sagen, wie mich in diesem Moment das Glück der Heilung durchfluthete und überstieg, – da erst begriff ich, daß nichts verloren sei, und ein Fortsetzen möglich sein würde, trotz des eben noch so tief unterbrochenen Herzens. – Bücher waren noch die gleichen, in den Kästen der Bouquinisten, kleine Gegenstände erkannte ich, einzelne, in den Schaufenstern der Antiquare, und wo ein kleines, weniger bestaubtes Rund den Platz erkennen ließ, von dem eines weggenommen worden war, meinte ich zu errathen, was dort gestanden habe. Es war eine Rührung in meinem Herzen, die keiner Sentimente bedurfte. Eine Empfindung, die sich kaum antreten ließ, so vollkommen war sie in sich, so unberührbar, aber man stand fortwährend am Eingang dieses Vorhimmels, der von ihr heil erfüllt war, – es war das maltesche Paris in seiner ganzen Vollzähligkeit, und nun erst schien es mir völlig zu entgelten, daß ich es so tief erlitten und ertragen hatte, – nun trug es mich, ich machte kaum die Bewegungen eines Schwimmers, das Element trug und ersparte meiner Hingegebenheit alle Ausgaben. – Du kannst Dir denken, daß ich niemanden zu sehen versuchte, auch Marthe nicht. Ich hatte keine Stelle meines Wesens frei, der Kontakt war so vollkommen, ich war überall angeschlossen, und so Unerhört war dieses Aufgenommensein vom ersten Augenblick an, daß es mich keine Überwindung gekostet hätte, nach einer Stunde wieder abzureisen: ich war schon erfüllt und der ganzen unerschöpflichen Versöhnung versichert. Für solche Verfassung waren sechs Tage ein unbegreiflicher Überfluß, dazu alle von der gleichen herbstlichen Herrlichkeit –, und, bei dem unsicheren Verhältnis, daß ich ohnehin zum Monde habe, könnte ich beschwören, er sei alle jene Nächte in seiner ganzen Fülle und Rundung in den Himmeln blieben, deren morgendliche Blässe ihn aufgelöst in den Glanz der Sonne hinübergab.
Andreas-Salomé (31. 12. 1920), 422f.
Für Lia Rosen
Wer weiß denn was wir werden? Daß wir sind,
ist ein Gerücht an das wir wieder glauben
sooft wir fühlen: einmal war ich Kind.
Doch schon das Nächste kommt zu groß und rinnt
durch uns wie Wind im Herbst durch leere Lauben.
Werke II, 209
Das XII. Sonett an Orpheus
Wolle die Wandlung.
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