Aber er wurde von dem tödlichen Stich abgehalten.
Als er gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit so lautem Ruf auf den Ogellallah stürzte, hatte Old Firehand einen raschen Blick herübergeworfen, welcher das Gesicht des Feindes streifte. Trotz der Flüchtigkeit dieses Blicks aber hatte er doch ein Gesicht gesehen, welches er haßte mit der tiefsten Faser seines Innern, welches er lange, lange Jahre mit fürchterlicher Anstrengung, aber vergebens gesucht, und das ihm nun so unerwartet an diesem Orte vor die Augen kam.
„Tim Finnetey“, schrie er, schlug mit den Armen die Indianer wie Grashalme auseinander und sprang mitten durch sie hindurch auf Winnetou zu, dessen soeben zum Stoß erhobene Hand er packte. „Halt, Bruder, dieser Mann gehört mir!“
Vor Schrecken starr stand Parranoh, als er seinen eigentlichen Namen rufen hörte; kaum aber hatte er einen Blick in das Angesicht Old Firehands geworfen, so riß er sich los von der Hand Winnetous, der seine Aufmerksamkeit geteilt hatte, und stürmte, wie von der Sehne geschnellt, von dannen. Im Augenblick machte auch ich mich von dem Indianer, mit welchem ich während dieser Szene im Kampf stand, los und setzte dem Fliehenden nach. Zwar hatte ich für meine Person keinerlei Abrechnung mit ihm zu halten, aber selbst wenn er auch nicht als der eigentliche Urheber des beabsichtigten Überfalls Anrecht auf eine Kugel gehabt hätte, so wußte ich doch, daß er ein Todfeind Winnetous sei, und ebenso hatten mich die letzten Augenblicke belehrt, daß Old Firehand an der Ergreifung seiner Person gelegen sein müsse.
Beide hatten sich ebenfalls augenblicklich zur Verfolgung in Bewegung gesetzt; aber ich wußte, daß sie den Vorsprung, welchen ich vor ihnen hatte, nicht verringern würden und mußte freilich auch zu gleicher Zeit bemerken, daß ich es mit einem außerordentlich guten Läufer zu tun hatte. Obgleich Old Firehand nach dem, was ich von ihm gehört hatte, ein Meister in allen Fertigkeiten, welche das Leben im Westen verlangt, sein mußte, so befand er sich doch schon längst nicht mehr in den Jahren, welche einen Wettlauf auf Tod und Leben begünstigen, und Winnetou hatte mir schon öfters eingestanden, daß er mich nicht einzuholen vermöge.
Zu meiner Genugtuung bemerkte ich, daß Parranoh den Fehler beging, ohne seine Kräfte gehörig abzumessen, Hals über Kopf immer gradaus zu rennen, und in seiner Bestürzung die gewöhnliche Taktik der Indianer, im Zickzack zu fliehen, nicht befolgte, während ich den Odem zu sparen suchte und in vollständiger Berechnung meiner Kräfte und der möglichen Ausdauer die Anstrengung des Laufes abwechselnd von einem Beine auf das andere legte, eine Vorsicht, welche mir stets von Vorteil gewesen war.
Die beiden anderen blieben immer weiter zurück, so daß ich das Geräusch ihres Atems, welches ich erst dicht hinter mir gehört hatte, nicht mehr vernahm, und jetzt erscholl auch aus schon ziemlicher Entfernung die Stimme Winnetous:
„Old Firehand mag stehen bleiben! Mein junger, weißer Bruder wird die Kröte von Athabaska fangen und töten! Er hat die Füße des Sturmes, und niemand vermag, ihm zu entkommen.“
So schmeichelhaft dieser Ruf für mich klang, ich konnte mich doch nicht umsehen, um zu gewahren, ob der grimme Jäger ihm auch Folge leiste. Zwar schien der Mond, aber bei der Trüglichkeit seines Schimmers mußte ich den Flüchtling immer fest im Auge behalten.
Bisher war ich ihm noch um keinen Schritt näher gerückt; aber als ich jetzt bemerkte, daß seine Geschwindigkeit im Abnehmen begriffen sei, holte ich weiter aus, und in kurzer Zeit flog ich so nahe hinter ihm her, daß ich sein keuchendes Schnaufen vernahm. Ich hatte keine andere Waffe bei mir, als die beiden abgeschossenen Revolver und das Bowiemesser, welches ich jetzt zog. Das Beil hätte mich am Lauf gehindert und war deshalb schon nach den ersten Schritten von mir weggeworfen worden.
Da plötzlich sprang er zur Seite, um mich im vollen Jagen an sich vorüberschießen zu lassen und dann von hinten an mich zu kommen; aber ich war natürlich auf dieses Manöver gefaßt und bog in eben demselben Moment seitwärts, so daß wir mit voller Gewalt zusammenprallten und ihm dabei mein Messer bis an den Griff in den Leib fuhr.
Der Zusammenstoß war so kräftig, daß wir beide zur Erde stürzten, von welcher er sich allerdings nicht wieder erhob, während ich mich augenblicklich zusammenraffte, da ich nicht wissen konnte, ob er tödlich getroffen sei. Aber er bewegte kein Glied, und tief Atem holend, zog ich das Messer zurück.
Es war nicht der erste Feind, welchen ich niedergestreckt, und mein Körper zeigte manches Andenken an nicht immer glücklich bestandene Rencontres mit den kampfgewandten Bewohnern der amerikanischen Steppen; aber hier lag ein Weißer vor mir, der von meiner Waffe gestorben, und ich konnte mich eines beengenden Gefühls nicht erwehren. Doch hatte er den Tod jedenfalls verdient und war des Bedauerns also nicht wert.
Noch mit mir zu Rate gehend, welches Zeichen meines Sieges ich mit mir nehmen solle, hörte ich hinter mir den eiligen Lauf eines Menschen. Rasch warf ich mich nieder; aber ich hatte nichts zu befürchten, denn es war Winnetou, welcher mir in freundschaftlicher Besorgnis doch gefolgt war und jetzt an meiner Seite hielt.
„Mein Bruder ist schnell wie der Pfeil des Apachen und sein Messer trifft sicher das Ziel.“
„Wo ist Old Firehand?“
„Er ist stark wie der Bär zur Zeit des Schneefalls, aber sein Fuß wird gehalten von der Hand der Jahre. Will mein Bruder sich nicht schmücken mit der Skalplocke des Athabaska?“
„Ich schenke sie meinem roten Freund!“
Mit drei Schnitten war die Kopfhaut des Gefallenen vom Schädel gelöst. Ich hatte mich, um von dieser Prozedur nicht berührt zu werden, abgewandt, da war es mir, als bewegten sich einige dunkle Punkte langsam auf uns zu.
„Winnetou mag sich zur Erde strecken, er wird den Skalp des weißen Häuptlings verteidigen müssen!“
Die Kommenden nahten sich mit sichtbarer Vorsicht; es war ungefähr ein halbes Dutzend Ogellallahs, augenscheinlich von denen, welche uns entkommen waren, und kehrten zurück, jedenfalls um zu rekognoszieren und etwa versprengte Ihrige aufzusuchen.
Der Apache kroch, tief zur Erde gedrückt, seitwärts, und ich folgte, seine Absicht erratend. Längst schon hätte Old Firehand bei uns sein müssen; aber vermutlich hatte er, sobald Winnetou ihm aus den Augen geraten war, eine falsche Richtung eingeschlagen. Jetzt bemerkten wir, daß die Nahenden Pferde bei sich hatten, welche sie am Zügel nachführten; auf diese Weise waren sie für alle Fälle zur schnellen Flucht bereit, uns aber konnte dieser Umstand gefährlich werden, und wir mußten uns deshalb in den Besitz der Tiere setzen. Wir schlugen daher einen Bogen ein, eine Bewegung, welche uns in ihren Rücken und die Pferde zwischen uns und sie bringen mußte.
In dieser Entfernung vom eigentlichen Kampfplatze hatten sie natürlich keinen Toten vermutet und stießen ein verwundertes „Hugh!“ aus, als sie einen regungslosen menschlichen Körper vor sich erblickten. Hätten sie vermutet, daß er hier getroffen sei, so wären sie gewiß mit weniger Eile auf ihn zugeschritten; sie schienen aber anzunehmen, daß er sich verwundet aus dem Handgemenge bis hierher geschleppt habe, bückten sich unverzüglich auf ihn nieder und stießen, als sie ihn und seine Entstellung erkannten, ein unterdrücktes Wutgeheul aus.
Das war der geeignete Augenblick für uns. Im Nu hatten wir sämtliche Pferde, welche sie im Schrecken losgelassen hatten, bei den Riemen, saßen auf und jagten im Galopp den Unsrigen zu. An einem Kampf konnte uns nichts gelegen sein; es war genug, daß wir, fast waffenlos, wie wir waren, den dreifach Überlegenen entkamen und außer dem Skalp des feindlichen Anführers noch eine Anzahl Pferde mitbrachten.
Mit sehr verzeihlichem Vergnügen dachte ich an die verdutzten Gesichter, welche die Betrogenen uns jedenfalls nachschnitten, und selbst der so ernste Winnetou konnte ein lachendes „Uff“ nicht unterdrücken. Zugleich aber war eine kleine Sorge um Old Firehand sicher gerechtfertigt, da er ebenso gut wie wir mit einer Truppe der Verschlagenen zusammengetroffen sein konnte.
Und diese Sorge erwies sich als gerechtfertigt; denn wir fanden ihn bei unserer Rückkehr zu dem Platz des Überfalles nicht vor, trotzdem seit unserer Entfernung eine geraume Zeit vergangen sein mußte.
Der Kampf war beendet; man befand sich beim Verbinden der Verwundeten und trug die Gefallenen zusammen. In der Nähe derjenigen Stelle, an welcher die ausgerissenen Schienen lagen, brannten zwei hochlodernde Feuer, welche die nötige Helle verbreiteten und zugleich dem Zugpersonal als Signal dienten.
„Da seid ihr ja wieder!“ rief uns der Ingenieur entgegen, welcher ein Tuch um den verletzten Arm trug und uns die unbeschädigte Rechte zum Gruß hinstreckte. „Habt Euch brav gehalten, Alter; hätte einem Indsman so etwas gar nicht zugetraut; werde es zu berichten wissen! Wohin führt Euch Euer Pfad?“
„Winnetou geht, zu sehen das mächtige Volk der Bleichgesichter“, antwortete der Gefragte.
„Dann vergeßt ja nicht, nach Washington zu gehen, zur Stadt des großen Vaters, dem ich schreiben werde von dem tapfern und guten Häuptling der Apachen.“
„Winnetou wird ihn sehen und ihm sagen die Wünsche der roten Männer.“
„Er wird die Worte unsers Bruders hören und mit Weisheit und Güte beantworten. Aber wo ist Old Firehand, den ich Euch nachjagen sah?“
„Mein weißer Bruder hat verloren die Fährte des roten Mannes und ist auf einen neuen Feind gestoßen. Der Apache wird mit seinem jungen Freund gehen, ihn zu suchen.“
Auch ich hegte diese Absicht, da er längst wieder da sein mußte, wenn ihm nichts begegnet gewesen wäre. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schloß ich mich deshalb dem Indianer, nachdem wir uns unsere Waffen wieder angeeignet, sie in den gehörigen Zustand gesetzt und die erbeuteten Pferde in Sicherheit gebracht hatten, an und schritt mit ihm der Richtung zu, aus welcher wir soeben gekommen waren. –
Der Mond warf sein fahles, zweifelhaftes Licht über die vor uns ausgebreitete Weite, hinter uns flammten die beiden Feuerzungen empor, und am östlichen Punkt des Gesichtskreises wurde nun auch das scharfe Licht der nahenden Maschine sichtbar. Der Knoten, welcher uns für wenige Viertelstunden mit der Zivilisation verband, war nur leicht geschlungen; vielleicht löste er sich schon in dem gegenwärtigen Augenblick, welcher uns in die ungewisse und gefahrvolle Nacht hinausführte. – – –
Eine Reihe von Tagen war vergangen. Unser glücklich zurückgelegter Weg hatte uns mitten durch das Gebiet feindlicher Stämme geführt, und jetzt nun, wo die uns dabei drohenden Gefahren hinter uns lagen, konnten wir uns einmal nach Herzenslust ausruhen und pflegen.
Unsere Büchsen waren in den letzten Tagen, um durch den Knall derselben nicht die Rothäute auf uns aufmerksam zu machen, stumm geblieben; aber trotzdem hatten wir, da wir an der Station der Bahnarbeiter mit hinreichendem Proviant und manchem anderen reichlich versehen worden waren, nicht Mangel gelitten, und auch jetzt eben ließ Old Firehand den letzten Inhalt einer mitgenommenen Rumflasche in das heiße Wasser laufen und kostete mit sichtbarem Wohlbehagen den in dieser Gegend so seltenen Trank.
Winnetou hatte die Wache und trat, von einem seiner Rundgänge zurückgekehrt, zum Feuer. Old Firehand bot ihm den dampfenden Becher.
„Will mein Bruder sich nicht ans Feuer setzen? Der Pfad des Rapaho führt nicht an diese Stelle.“
„Das Auge des Apachen steht immer offen; er traut nicht der Nacht; denn sie ist ein Weib.“
Nachdem er einen langen, behaglich schlürfenden Schluck getan hatte, schritt er wieder in das Dunkel zurück.
„Er haßt die Frauen“, warf ich hin, um den Anfang zu geben zu einer jener traulichen Unterhaltungen, welche, geführt unter ruhig flimmernden Sternen, für lange Jahre in der Erinnerung bleiben.
Old Firehand öffnete das an seinem Hals hängende Futteral und entnahm demselben die sorglich darin verwahrte kurze Pfeife, welche er gemächlich stopfte und dann in Brand steckte.
„Meint Ihr? Vielleicht auch nicht.“
„Seine Worte schienen es zu sagen.“
„Schienen“, nickte der alte Jäger; „aber es ist nicht so. Es gab einmal eine, um deren Besitz er mit Mensch und Teufel gekämpft hätte, und seit jener Zeit ist ihm das Wort ‚Squaw‘ (Frau) entfallen.“
„Warum führte er sie nicht in seine Hütte?“
„Sie liebte einen anderen!“
„Danach pflegt ein Indianer nicht zu fragen.“
„Aber dieser andere war sein Freund.“
„Und der Name dieses Freundes?“
„Ist jetzt Old Firehand.“
Ich blickte überrascht empor.
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