Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - 02 - Im Schatten junger Mädchenblüte
Marcel Proust
Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit
Band 2
Im Schatten junger Mädchenblüte
Übersetzung und Anmerkungen
von Bernd-Jürgen Fischer
Reclam
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2014
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960551-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010901-4
www.reclam.de
Inhalt
Im Schatten junger Mädchenblüte
Erster Teil
In der Welt von Madame Swann
Zweiter Teil
Ländliche Namen: Das Land
Anhang
Zum zweiten Band der Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Inhaltsübersicht
Namenverzeichnis
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
ERSTER TEIL – In der Welt von Madame Swann
[7] ERSTER TEIL
In der Welt von Madame Swann
Meine Mutter hatte, als es darum ging, zum ersten Mal Monsieur de Norpois* zum Abendessen zu Gast zu haben, ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass Professor Cottard auf Reisen sei und dass sie selbst jeglichen Umgang mit Swann abgebrochen habe, denn der eine wie der andere hätte sicherlich den früheren Botschafter interessiert, doch mein Vater antwortete, dass zwar ein so bedeutender Zeitgenosse, ein so ausgezeichneter Wissenschaftler wie Cottard niemals fehl am Platz sei bei einem Diner, Swann dagegen, mit seiner Anmaßung, mit seiner Gewohnheit, überall die Kunde noch von seinen unbedeutendsten Beziehungen auszuposaunen, ein ordinärer Aufschneider, den der Marquis von Norpois zweifellos, in seinen Worten, »anrüchig« finden würde. Diese Antwort meines Vaters bedarf jedoch einiger Worte der Erläuterung, da sich manch einer vielleicht eines ziemlich mittelmäßigen Cottard entsinnen wird und eines Swann, der die Bescheidenheit und Diskretion in gesellschaftlichen Dingen bis zur erlesensten Feinfühligkeit trieb. Doch was diesen letzteren anbetrifft, so hatte in der Zwischenzeit der frühere Freund meiner Eltern dem »Swann junior« wie auch dem Swann des Jockey-Clubs* eine neue Persönlichkeit hinzugefügt (die nicht die letzte sein sollte), nämlich die eines Gatten von Odette*. Indem er sein Gespür, seine Bestrebungen und die Umsicht, die er immer besessen hatte, an die bescheidenen Erwartungen dieser Frau anpasste, war es ihm gelungen, sich einen neuen Status weit unterhalb des früheren zu schaffen, der der Gefährtin, die ihn mit ihm teilen sollte, angemessen war. Nun, in dieser Position zeigte er sich als ein anderer Mann. Da dieses ein zweites Leben war (in dem er auch weiterhin, allein, seine persönlichen [8] Freunde besuchte, denen er Odette nicht aufdrängen wollte, solange sie ihn nicht von sich aus darum baten, sie kennenlernen zu dürfen), das er gemeinsam mit seiner Frau im Lebenskreis neuer Mitmenschen begann, hätte man noch verstanden, wenn er sich, um deren Wert und folglich auch die Freuden der Eigenliebe einschätzen zu können, die ihm zuteilwerden würden, wenn er sie empfinge, als Ausgangspunkt nicht unbedingt der hervorragendsten Leute bedient hätte, die vor seiner Heirat seinen Gesellschaftskreis ausmachten, sondern der vorherigen Bekanntschaften Odettes. Aber selbst wenn man wusste, dass es grobschlächtige Beamte und anrüchige Frauen waren, die Zierde von Ministerbällen, mit denen er sich in Verbindung zu bringen suchte, so war man doch erstaunt, ihn, der früher und sogar auch noch jetzt so formvollendet eine Einladung aus Twickenham oder dem Buckingham Palace herunterspielte, nunmehr lauthals verkünden zu hören, dass die Frau eines Staatsuntersekretärs gekommen war, um Madame Swann einen Besuch abzustatten. Man wird vielleicht als Erklärung anführen, dass die Schlichtheit des vornehmen Swann bei diesem nur eine ausgefeiltere Form von Eitelkeit gewesen sei und dass, wie so manche Israeliten, der frühere Freund meiner Eltern nur abwechselnd die aufeinanderfolgenden Stadien vorgeführt haben mochte, durch die die Angehörigen seiner Rasse hindurchgegangen waren, von einfältigstem Snobismus und gröbster Unmanier zu geschliffenster Höflichkeit. Doch der Hauptgrund, und das ist auf die Menschheit generell anwendbar, war dieser, dass unsere Tugenden selbst keine unabhängige, frei schwebende Angelegenheit sind, deren dauerhafte Verfügbarkeit wir uns sichern könnten; sie verbinden sich schließlich in unserem Geist so innig mit den Handlungen, bei deren Ausübung wir es uns zur Pflicht gemacht haben, sie zu beachten, dass, wenn eine Tätigkeit ganz anderer Art an uns herantritt, diese uns völlig unvorbereitet trifft und wir gar nicht [9] auf den Gedanken verfallen, dass sie die Anwendung eben dieser Tugenden vertragen könnte. Swann, der sich um diese neuen Beziehungen eifrig bemühte und sie mit Stolz erwähnte, glich darin jenen bescheidenen oder auch großzügigen bedeutenden Künstlern, die sich zu ihrem Lebensende hin mit Kochkunst oder Gärtnerei beschäftigen und eine naive Befriedigung aus dem Lob ziehen, das man ihren Gängen oder Gärten spendet, bei denen sie eben die Kritik nicht ertragen, die sie mit Gelassenheit hinnehmen, wenn es sich um ihre Hauptwerke handelt; oder die eines ihrer Gemälde für ein Nichts weggeben, aber dann nur missmutig vierzig Sous beim Domino verlieren können.
Was nun Professor Cottard anbelangt, so wird man ihn, sehr viel später, ausgiebig bei der Padrona wiedersehen, auf dem Schloss von La Raspelière*. Weshalb es an dieser Stelle in Hinblick auf ihn zunächst genügt, folgendes anzumerken: Bei Swann kann die Veränderung durchaus überraschen, da sie sich ja, unbemerkt von mir, bereits vollzogen hatte, als ich den Vater von Gilberte in den Champs-Élysées traf, wo er allerdings, da er nicht das Wort an mich richtete, auch nicht mit seinen politischen Beziehungen ein Aufhebens vor mir machen konnte (freilich, selbst wenn er es getan hätte, so wäre mir wahrscheinlich dennoch nicht gleich seine Eitelkeit aufgefallen, denn die Vorstellung, die man sich vor langer Zeit von jemandem gemacht hat, verschließt Augen und Ohren; meine Mutter hatte drei Jahre lang nicht einmal den Lippenstift bemerkt, den sich eine ihrer Nichten auflegte, als sei er vollständig und unsichtbar in einer Flüssigkeit aufgelöst; bis eines Tages ein zusätzliches Partikelchen oder irgendetwas anderes zu jener Erscheinung führte, die man Übersättigung nennt; der ganze unbemerkte Lippenstift kristallisierte aus, und meine Mutter erklärte – ganz wie man es in Combray getan hätte – angesichts dieser plötzlichen Farbenorgie, dass es eine Schande sei, und brach die [10] Beziehungen zu ihrer Nichte fast vollständig ab). Aber bei Cottard lagen im Gegenteil die Zeiten, zu denen man ihn als Zeugen der Anfänge Swanns bei den Verdurins erlebte, schon hinreichend lange zurück; mit den Jahren kommen jedoch Ehren und Titel. Zweitens kann man ungebildet sein und dümmliche Wortspiele machen und dennoch ein besonderes Talent besitzen, das von keiner Allgemeinbildung ersetzt werden kann, wie etwa das eines großen Strategen oder eines großen Klinikers. In der Tat wurde Cottard von seinen Kollegen keineswegs nur als ein obskurer Praktikus betrachtet, der es schließlich zu europäischer Berühmtheit gebracht hatte. Die gescheitesten unter den jungen Medizinern erklärten – zumindest einige Jahre lang, denn die Moden wechseln, da sie selbst dem Bedürfnis nach Wechsel entsprungen sind –, dass Cottard, sollten sie einmal krank werden, der einzige Meister seines Faches sei, dem sie ihr Leben anvertrauen würden. Offenkundig bevorzugten sie aber den Umgang mit gewissen gebildeteren, kunstbeflisseneren Chefärzten, mit denen sie sich über Nietzsche oder Wagner unterhalten konnten. Wenn bei Madame Cottard an den Abenden, zu denen sie die Kollegen und Studenten ihres Mannes in der Hoffnung einlud, dass er einmal Dekan der Fakultät werden würde, musiziert wurde, so zog er es vor, in einem Nebenraum Karten zu spielen statt zuzuhören. Aber man rühmte die Promptheit, Gründlichkeit und Untrüglichkeit seines Urteils, seiner Diagnosen. Zum dritten merken wir, soweit es den Gesamteindruck betrifft, den Professor Cottard auf einen Mann wie meinen Vater machte, noch an, dass die Wesensart, die wir im zweiten Teil unseres Lebens zum Vorschein kommen lassen, nicht immer, wiewohl häufig, unsere ausentwickelte oder verblasste, vergröberte oder abgemilderte erste Wesensart ist; manchmal ist es auch eine Wesensart mit umgekehrten Vorzeichen, geradezu ein gewendetes Kleidungsstück. Außer bei den Verdurins, die völlig von ihm [11] eingenommen waren, hatten das zurückhaltende Auftreten Cottards, seine Schüchternheit und seine übertriebene Liebenswürdigkeit ihm in seiner Jugend ständig Hänseleien eingebracht. Welcher barmherzige Freund hatte ihm ein eisiges Auftreten angeraten? Die Bedeutung seiner Stellung erleichterte es ihm, dieses anzunehmen. Überall, ausgenommen bei den Verdurins, wo er instinktiv wieder er selbst wurde, gab er sich kalt, vorsätzlich schweigsam und autoritär, wenn er doch redete, wobei er niemals vergaß, etwas Unangenehmes einfließen zu lassen. Er konnte diese neue Haltung an Patienten ausprobieren, die ihn nicht von früher kannten, die folglich auch keine Vergleiche anstellen konnten und die recht erstaunt gewesen wären, wenn sie erfahren hätten, dass er keineswegs von Natur aus grob war. Insbesondere zwang er sich zu völliger Undurchdringlichkeit, und selbst wenn er während des Dienstes im Hospital eines seiner Wortspiele zum besten gab, die alle Welt vom Klinikchef bis hinab zum jüngsten Volontär zum Lachen brachten, so machte er das stets, ohne auch nur eine Miene in seinem Gesicht zu verziehen, das zudem nicht mehr wiederzuerkennen war, da er sich Schnurr- und Backenbart abrasiert hatte.
Sagen wir nun zum Schluss, wer der Marquis von Norpois war. Vor dem Krieg war er Gesandter gewesen, sowie Botschafter des Sechzehnten Mai*, und hatte seitdem dennoch, zur großen Verwunderung vieler, im Auftrag von radikalen* Kabinetten, denen zu dienen ein simpler reaktionärer Bürger sich geweigert haben würde und denen die Vergangenheit von Monsieur Norpois, seine Verbindungen, seine Meinungen, hätten verdächtig erscheinen müssen, Frankreich bei besonderen Aufgaben vertreten, sogar als Kontrolleur der ägyptischen Schuldenverwaltung, wobei er dank seiner großen finanzwirtschaftlichen Kenntnisse wichtige Dienste geleistet hatte.
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