Für jeden von uns ist es in der Tat schwierig, genau abzuschätzen, wie seine Worte oder seine Bewegungen von anderen wahrgenommen werden; aus Angst, unsere eigene Wichtigkeit zu übertreiben, und indem wir den Bereich, über den sich die Erinnerungen der anderen im Laufe ihres Lebens zwangsläufig ausgebreitet haben müssen, zu ungeheurer Ausdehnung vergrößern, bilden wir uns ein, dass die nebensächlichen Bestandteile unserer Rede oder unseres Verhaltens schwerlich in das Bewusstsein derer eindringen, mit denen wir uns unterhalten, geschweige denn, in ihrem Gedächtnis haften bleiben. Einer Annahme dieser Art folgen übrigens Kriminelle, wenn sie nachträglich ein Wort retuschieren, das sie gesagt haben und von dem sie glauben, man könne diese Variante nicht einer anderen Version gegenüberstellen. Aber es mag durchaus sein, dass, selbst was das tausendjährige Leben der Menschheit betrifft, die Philosophie des Feuilletonschreibers, der zufolge alles dem Vergessen anheimgegeben ist, weniger wahr ist als eine entgegengesetzte Philosophie, die die Bewahrung von allem behaupten würde. Spricht nicht häufig in derselben Zeitung, in der uns der Kritiker des »Premier Paris«* von einem Ereignis, von einem Meisterwerk, vor allem aber von einer Sängerin, die ihre »große Stunde« hatte, [72] sagt: »Wer wird sich dessen in zehn Jahren noch erinnern?«, auf Seite drei der Forschungsbericht der Académie des Inscriptions von einer für sich genommen weniger wichtigen Sache, von einem recht dürftigen Gedicht, das aus der Zeit der Pharaonen stammt und das man nun endlich in Gänze kennt? Vielleicht ist es mit dem kurzen menschlichen Leben nicht ganz das gleiche. Jedoch, als man mir einige Jahre später, in einem Haus, in dem mir Monsieur de Norpois, der sich ebenfalls dort zu Besuch befand, als die festeste Stütze erschien, die ich dort antreffen konnte, da er ein Freund meines Vaters war, nachsichtig, voller Wohlwollen uns gegenüber, und zudem durch seinen Beruf und seine Herkunft an Diskretion gewöhnt, nach seinem Abschied erzählte, dass dieser auf eine lang vergangene Abendgesellschaft angespielt habe, bei dieser er »den Augenblick habe kommen sehen, in dem ich ihm die Hände küssen würde«, wurde ich nicht nur bis über beide Ohren rot, ich war sprachlos zu erfahren, dass nicht nur die Art, in der Monsieur de Norpois von mir sprach, sondern vor allem auch die Beschaffenheit seiner Erinnerungen so verschieden war von dem, was ich angenommen hatte. Dieser »Klatsch« klärte mich über die ungeahnten Ausmaße von Geistesabwesenheit und -anwesenheit, von Vergessen und Gedächtnis auf, aus denen der menschliche Geist gefügt ist; und ich war ebenso gänzlich überrascht wie an dem Tag, als ich zum ersten Mal in einem Buch von Maspero* las, dass man die Liste der Jäger genau kennt, die Assurbanipal zehn Jahrhunderte vor Christus zu seinen Jagdpartien einlud.

»Oh!, mein Herr«, sagte ich zu Monsieur de Norpois, als er mir ankündigte, dass er Gilberte und ihrer Mutter von meiner Bewunderung für sie berichten wolle, »wenn Sie das tun würden, wenn Sie mit Madame Swann über mich sprechen würden, dann wüsste ich Ihnen mein ganzes Leben lang meine Dankbarkeit nicht zur Genüge zu beweisen, und dieses Leben würde ganz Ihnen gehören! [73] Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass ich Madame Swann nicht kenne und dass ich ihr nicht vorgestellt worden bin.« Ich hatte diese letzten Worte aus Gewissenhaftigkeit hinzugefügt, damit es nicht so aussähe, als rühmte ich mich einer Verbindung, die ich nicht hatte. Doch während ich sie noch aussprach, fühlte ich bereits, dass sie überflüssig geworden waren, denn schon am Anfang meines von einem abkühlenden Eifer getragenen Dankes hatte ich einen Ausdruck des Zögerns und der Unzufriedenheit über das Gesicht des Botschafters ziehen sehen und in seinen Augen diesen geradeaus gerichteten, schmalen, schräg ansetzenden Blick bemerkt (wie in einer perspektivischen Skizze eines geometrischen Körpers die Fluchtlinie einer seiner Oberflächen), einen Blick, der sich an jenen unsichtbaren Gesprächspartner wendet, den man in sich selber hat, mit dem man ihm etwas sagen möchte, was der andere Gesprächspartner, jener Herr, mit dem man sich bis eben noch unterhalten hatte – ich, in diesem Falle –, nicht hören soll. Mir wurde sogleich klar, dass diese Sätze, die ich ausgesprochen hatte und die mir, schwach wie sie waren im Vergleich zu dem Überschwang an Dankbarkeit, von der ich erfüllt war, als diejenigen erschienen waren, die Monsieur de Norpois hätten rühren und zu der Entscheidung für ein Eingreifen bringen müssen, das ihm so wenig Mühe und mir so viel Freude gemacht hätte, womöglich (unter all denjenigen, die Menschen, die mir übelwollten, teuflischerweise hätten wählen können) die einzigen waren, die ihn im Endeffekt zu einem Rückzieher veranlassen konnten. So wie wir in dem Augenblick, in dem ein Unbekannter, mit dem wir gut gelaunt und allem Anschein nach im besten Einvernehmen Bemerkungen über Passanten ausgetauscht haben, die wir übereinstimmend ziemlich gewöhnlich fanden, uns plötzlich den pathologischen Abgrund erkennen lässt, der uns trennt, indem er beiläufig bemerkt, während er in seiner Tasche herumtastet, »schade, dass ich meinen [74] Revolver nicht dabeihabe, sonst würde keiner übrigbleiben«, so dachte Monsieur de Norpois, der wusste, dass nichts weniger wertvoll noch auch leichter zu bewerkstelligen war, als Madame Swann empfohlen und bei ihr eingeführt zu werden, und der sah, dass dies im Gegenteil für mich von so großem Wert und also offenbar von großer Schwierigkeit war, als er meine Worte hörte, dass der auf den ersten Blick normale Wunsch, den ich zum Ausdruck gebracht hatte, irgendeinen Hintergedanken verschleiern müsse, irgendeine verdächtige Absicht, irgendein früheres Vergehen, aufgrund dessen sich niemand bisher, in der Gewissheit, Madame Swann damit zu missfallen, bereitgefunden hatte, ihr eine Mitteilung von mir zu überbringen. Und ich begriff, dass er diese Mitteilung niemals machen würde, dass er Madame Swann Jahre hindurch Tag für Tag sehen könnte, ohne mich deswegen auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Er ersuchte sie dennoch einige Tage später um eine Auskunft, um die ich gebeten hatte, und beauftragte meinen Vater, sie mir zu überbringen. Aber er hatte es nicht für nötig befunden zu sagen, für wen er sie einholte. Sie würde also nicht erfahren, dass ich Monsieur de Norpois kannte und dass ich so sehr wünschte, sie zu besuchen; und das war vielleicht kein so großes Unglück, wie ich glaubte. Denn die zweite dieser Neuigkeiten hätte wahrscheinlich wenig zu der, freilich ungewissen, Wirksamkeit der ersten hinzugefügt. Da in Odette die Vorstellung von ihrem eigenen Leben und ihrer Wohnung keine geheimnisvolle Aufregung erweckte, erschien ihr eine Person, die sie kannte, die sie besuchte, nicht als ein Fabelwesen, wie mir, der ich in die Fenster der Swanns einen Stein geworfen hätte, wenn ich darauf hätte schreiben können, dass ich Monsieur de Norpois kannte: Ich war überzeugt, dass eine solche Mitteilung, selbst wenn sie auf einem derart gewaltsamen Wege ihren Adressaten fand, mir eher Ansehen in den Augen der Hausherrin verschaffen denn diese gegen mich einnehmen würde. [75] Aber selbst wenn ich zu der Überzeugung gekommen wäre, dass der Auftrag, dessen Monsieur de Norpois sich nicht entledigte, ohne Nutzen bleiben würde, ja, mir sogar bei den Swanns schaden könnte, hätte ich doch nicht das Herz gehabt, den Botschafter, wenn er sich bereitwillig gezeigt hätte, davon zu entbinden und auf die Wollust, so verhängnisvoll die Folgen auch sein mochten, zu verzichten, dass sich mein Name und meine Person dergestalt für einen Augenblick nahe bei Gilberte befinden würden, in ihrem unbekannten Haus und Leben.

Nachdem Monsieur de Norpois gegangen war, warf mein Vater einen Blick in die Abendzeitung; ich dachte von neuem an die Berma. Das Vergnügen, das es mir bereitet hatte, sie zu hören, bedurfte umso mehr der Vervollständigung, als es weit davon entfernt war, dem zu gleichen, das ich mir versprochen hatte; deshalb ging unverzüglich alles in ihm auf, was geeignet war, es zu nähren, zum Beispiel die Anerkennung, die Monsieur de Norpois der Berma gezollt hatte und die mein Geist in einem Zuge aufgesogen hatte wie eine vertrocknete Wiese, die man mit Wasser besprengt. Doch mein Vater gab mir die Zeitung und zeigte dabei auf eine folgendermaßen abgefasste Notiz: »Die Aufführung der Phädra, die vor einem begeisterten Publikum stattfand, unter dem man die bedeutendsten Persönlichkeiten aus Kunst und Kritik bemerkte, ist für Madame Berma, die die Rolle der Phädra verkörperte, die Gelegenheit zu einem Triumph gewesen, wie sie ihn im Laufe ihrer ruhmreichen Karriere selten glänzender erlebt hat. Wir werden noch ausführlicher auf die Aufführung zurückkommen, die ein regelrechtes Theaterereignis bedeutet; wir sagen hier nur, dass sich die berufensten Stellungnahmen in der Feststellung einig waren, dass diese Interpretation die Rolle der Phädra, eine der schönsten und tiefsten Racines, gänzlich neu fasste und die reinste und höchste Verwirklichung von Kunst darstellte, der beizuwohnen unserer [76] Zeit jemals vergönnt war.« Sobald mein Geist diese neue Vorstellung von der »reinsten und höchsten Verwirklichung von Kunst« erfasst hatte, näherte diese sich dem unzulänglichen Vergnügen, das ich im Theater empfunden hatte, fügte ihm ein wenig dessen hinzu, was ihm fehlte, und ihrer beider Vereinigung bildete etwas so Erhebendes, dass ich ausrief: »Welch große Künstlerin!« Sicherlich könnte man einwenden, dass ich nicht so ganz ehrlich war. Aber man möge einmal an all die Schriftsteller denken, die sich, wenn sie mit der Passage unzufrieden sind, die sie gerade geschrieben haben, dermaßen mit der Vorstellung des Genialen erfüllen, etwa indem sie eine Lobrede auf das Genie Chateaubriands lesen oder einen großen Künstler heraufbeschwören, dem sie gleichen möchten, zum Beispiel eine Phrase von Beethoven vor sich hin summen, deren Trauer sie mit der vergleichen, die sie in ihre Prosa hatten legen wollen, dass sie diese Vorstellung ihren eigenen Schöpfungen beilegen, wenn sie wieder über sie nachdenken, sie nicht mehr so sehen, wie sie ihnen zuvor erschienen waren, und sich, indem sie ein Glaubensbekenntnis zum eignen Werke wagen, sagen: ›Indes!‹, ohne zu merken, dass sie in die Gesamtheit dessen, was ihre schließliche Zufriedenheit ausmacht, auch die Erinnerung an die wundervollen Seiten von Chateaubriand haben einfließen lassen, die sie den ihrigen angleichen, die sie ja aber schließlich nicht geschrieben haben; man möge sich all der Männer entsinnen, die an die Liebe einer Mätresse glauben, von der sie nichts als Untreue kennen; auch all jener, die abwechselnd das eine Mal auf ein unbegreifliches Weiterleben hoffen, wenn sie, als untröstliche Gatten, an eine Frau denken, die sie verloren haben und immer noch lieben, oder, als Künstler, an den Nachruhm, den sie würden genießen können, das andere Mal dagegen auf ein beruhigendes Nichts, wenn sich ihr Verstand ihren Vergehen zuwendet, die sie ohne dieses nach ihrem Tod zu büßen haben würden; man möge [77] ferner an die Touristen denken, die von der Schönheit einer Reise als ganzer schwärmen, auf der sie doch Tag für Tag nichts als Beschwernis hatten, und dann möge man sagen, ob es, bei dem Gemeinschaftsleben, das die Vorstellungen im Schoße unseres Geistes führen, unter jenen, die uns am glücklichsten machen, auch nur eine gibt, die nicht anfangs, wie ein rechter Schmarotzer, den Größtteil der Kraft, die ihr fehlte, von einer fremden und benachbarten Vorstellung zu beziehen gehabt hätte.

Meine Mutter schien wenig erfreut zu sein, dass mein Vater nicht mehr »Die Karriere« für mich vorsah. Da sie, wie ich glaube, vor allem darauf bedacht war, dass ein regelmäßiges Leben die Launen meiner Nerven in Zaum halte, bedauerte sie weniger, mich auf die Diplomatie verzichten, als vielmehr, mich der Literatur verfallen zu sehen. »Aber nun lass doch«, rief mein Vater aus, »man muss vor allem Freude an dem haben, was man tut. Schließlich ist er kein Kind mehr. Er weiß inzwischen recht gut, was ihm liegt, es ist kaum anzunehmen, dass er sich noch ändert, und er ist durchaus in der Lage, sich selbst darüber klar zu werden, was ihn im Leben glücklich machen wird.« Durch die Aussicht, dass ich aufgrund der Freiheit, die sie mir gewährten, glücklich im Leben werden würde oder auch nicht, bereiteten diese Äußerungen meines Vaters mir an jenem Abend großen Schmerz. Seine unvorhergesehene Güte hatte mich schon immer, sobald sie zum Vorschein kam, mit einem solchen Verlangen erfüllt, die geröteten Wangen über seinem Bart zu küssen, dass ich dem einzig deshalb nicht nachgab, weil ich Angst hatte, ihn zu verstimmen. Jetzt fragte ich mich, etwa wie ein Schriftsteller, der erschrocken sieht, dass seine persönlichen Träumereien, die ihm ohne große Bedeutung erscheinen, da er sie nicht von sich selbst trennt, einen Verleger dazu bewegen, ein Papier auszuwählen, eine Schriftart zu verwenden, die vielleicht zu schön für sie sind, ob mein Verlangen zu schreiben denn eine hinreichend [78] wichtige Angelegenheit sei, meinen Vater deswegen so viel Güte verschwenden zu lassen. Vor allem aber schürte er, indem er von meinen Neigungen sprach, die sich nicht mehr ändern würden, von dem, was mein Lebensglück bestimmen würde, zwei furchtbare Verdachtsmomente in mir. Der erste war, dass (wo ich mich doch jeden Tag wieder auf der Schwelle meines noch unberührten Lebens wähnte, das nicht vor dem nächsten Morgen beginnen würde) mein Leben schon begonnen habe, ja, mehr noch, dass das, was noch folgen würde, nicht sehr verschieden werden dürfte von dem, was vorangegangen war. Der zweite Verdacht, der genau genommen nur eine andere Form des ersten war, bestand darin, dass ich nicht außerhalb der Zeit existierte, sondern ihren Gesetzen unterlag, ganz wie Personen in einem Roman, die mich gerade deswegen in eine solche Traurigkeit stürzten, wenn ich in Combray im Dunkel meiner Weidenlaube von ihrem Leben las. Theoretisch weiß man, dass die Erde sich dreht, aber tatsächlich nimmt man es nicht wahr, der Boden, auf dem man geht, scheint sich nicht zu bewegen, und man lebt in Ruhe.