Nur um mein Leiden abzukürzen, nicht mehr in der Erwartung eines geistigen Gewinns und in Hingabe an die Anziehungskraft der Vollendung, hätte ich mich, nun nicht zu der Weisen Göttin, sondern zu der unversöhnlichen Gottheit ohne Gesicht und ohne Namen führen lassen, durch die jene heimlich unter ihrem Schleier ersetzt worden war. Doch plötzlich änderte sich alles, mein Wunsch, die Berma zu hören, erfuhr einen neuen Ansporn, der es mir ermöglichte, in Ungeduld und Freude jene »Matinee« zu erwarten: Als ich wieder meinen täglichen, seit kurzem so quälenden Posten als Säulenheiliger vor der Anschlagsäule der Theater bezogen hatte, hatte ich die noch ganz feuchte und eben gerade erstmals angeklebte detaillierte Ankündigung der Phädra gesehen (in der aber, ehrlich gesagt, die übrige Besetzung keinerlei zusätzliche Anziehungskraft auf mich ausübte, die es mir möglich gemacht hätte, mich zu entscheiden). Sie gab einem der [26] beiden Ziele, zwischen denen meine Unentschlossenheit schwankte, eine festere und – da der Anschlag nicht das Datum des Tages trug, an dem ich ihn las, sondern jenes, an dem die Aufführung stattfinden sollte, sowie die Stunde, zu der der Vorhang sich heben würde – nahezu gegenwärtige, fast schon Wirklichkeit gewordene Gestalt, und dies so sehr, dass ich bei dem Gedanken, an jenem Tage, genau zu jener Stunde, bereit, die Berma zu hören, auf meinem Platz sitzen würde, vor der Anschlagsäule einen Freudensprung machte; und besorgt, dass meine Eltern nicht mehr die Zeit haben könnten, zwei gute Plätze für meine Großmutter und mich zu bekommen, eilte ich in einem Satz nach Hause, so befeuert war ich von den magischen Worten, die den »Sonnenmythos« und die »jansenistische Blässe« aus meinem Denken verdrängt hatten: »Für die Parkettplätze werden Damen mit Hut nicht eingelassen, die Türen werden um zwei Uhr geschlossen.«
Doch ach!, diese erste Matinee war eine große Enttäuschung. Mein Vater schlug uns vor, meine Großmutter und mich auf dem Weg zu seiner Kommissionssitzung beim Theater abzusetzen. Beim Verlassen des Hauses sagte er zu meiner Mutter: »Versuch, ein gutes Essen zu machen; du erinnerst dich doch, dass ich Norpois mitbringen werde?« Meine Mutter hatte es nicht vergessen. Und seit dem Tag zuvor lebte Françoise, die glücklich war, sich der Kochkunst hingeben zu können, für die sie zweifellos eine Begabung besaß, die zudem angestachelt war durch die Ankündigung eines neuen Gastes, und die bereits wusste, dass sie nach den einzig ihr bekannten Methoden einen Rinderbraten in Aspik komponieren* sollte, im Rausch des Schöpfertums; da sie ein ganz besonderes Gewicht auf die einwandfreie Qualität der Rohstoffe legte, die in die Herstellung ihres Werkes Eingang finden sollten, ging sie selbst in die Markthalle, um die schönsten Stücke Rumpsteak, Rindshaxe, Kalbsfuß zu besorgen, ähnlich wie Michelangelo, der [27] acht Monate in den Bergen von Carrara verbrachte, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Grabmal Julius’ II.* auszusuchen. Françoise legte bei diesem ganzen Hin und Her einen solchen Eifer an den Tag, dass Maman, als sie ihr feuerrotes Gesicht sah, fürchtete, unsere alte Dienerin könnte vor Überanstrengung krank werden, so wie der Erbauer der Medici-Gräber* in den Steinbrüchen von Pietrasanta*. Und bereits am Vortag hatte Françoise das, was sie »Nev-Yorker Schinken« nannte, geschützt vom rosigen Marmor des Brotteigs zum Bäcker geschickt, um es in dessen Ofen durchbacken zu lassen. Da sie die Sprache für weniger reich hielt, als sie tatsächlich ist, und sich ihrer eigenen Ohren wenig sicher war, hatte sie offenbar, als sie das erste Mal von Yorker Schinken reden hörte, geglaubt – denn in einem Vokabular, das York und New York zugleich enthalten sollte, hätte sie eine ganz unglaubwürdige Verschwendungssucht gesehen –, dass sie sich verhört habe und man den Namen habe nennen wollen, den sie bereits kannte. Seitdem ließ das Wort »York« in ihren Ohren, oder auch vor ihren Augen, wenn sie eine Anzeige las, ein »New« vor sich hergehen, das sie »Nev« aussprach. Und so sagte sie auch in gutem Glauben zu dem Küchenmädchen: »Gehen Sie und holen Sie Schinken von Olida*. Madame hat ausdrücklich gesagt, dass es Nev-Yorker sein soll.« Wenn an jenem Tage das Los von Françoise das der brennenden Zuversicht des großen Schöpfers war, so war das meinige das der quälenden Ungewissheit des Suchenden. Gewiss, solange ich die Berma noch nicht gehört hatte, empfand ich Freude. Ich empfand sie auf dem kleinen Platz vor dem Theater, auf dem zwei Stunden später die kahlen Kastanienbäume in metallischem Widerschein glänzen würden, sobald die Gaslaternen entzündet wären und jedes Detail ihres Zweigwerks beleuchteten; vor den Kartenkontrolleuren, deren Auswahl, Aufstieg, Schicksal von der großen Künstlerin – die allein die Macht in dieser Verwaltung in Händen [28] hielt, an deren Spitze sich kurzlebige und lediglich nominelle Direktoren unbemerkt ablösten – abhingen und die unsere Billetts entgegennahmen, ohne uns anzusehen, so sehr waren sie von der Sorge durchdrungen, ob auch wirklich alle Anweisungen von Madame Berma aufs genaueste dem neuen Personal weitergegeben worden waren, ob man verstanden hatte, dass die Claque niemals ihr selbst applaudieren dürfe, dass die Fenster geöffnet bleiben müssten, solange sie nicht auf der Bühne sei, dann aber auch die kleinste Tür sofort geschlossen werden müsse, dass ein Topf heißes Wasser unsichtbar in ihrer Nähe untergebracht werden solle, damit sich der Bühnenstaub legte: Und tatsächlich musste nun in jedem Augenblick ihr mit zwei langmähnigen Pferden bespannter Wagen vor dem Theater anhalten, sie diesem, in Pelze gehüllt, entsteigen und, während sie mit einer gelangweilten Geste den Begrüßungsrufen antwortete, eine ihrer Dienerinnen losschicken, um sich über die Proszeniumsplätze, die man für ihre Freunde reserviert hatte, in Kenntnis zu setzen, über die Temperatur im Saal, über die Komposition der Logen, über das Äußere der Logenschließerinnen, denn das Theater und die Öffentlichkeit waren für sie nur eine zweite, weiter außen liegende Bekleidung, in die sie sich hineinbegeben würde, und ein mehr oder weniger guter Leiter, durch den ihr Talent hindurchzufließen haben würde. Ich war auch im Zuschauerraum selbst glücklich; seit ich wusste, dass es – im Gegensatz zu dem, was mir meine kindlichen Vorstellungen so lange Zeit vorgegaukelt hatten – nur eine Bühne für alle gab, dachte ich, dass man, ähnlich wie inmitten einer Menschenmenge, durch die anderen Zuschauer gehindert sein würde, gut zu sehen; ich machte mir jedoch klar, dass sich im Gegenteil, dank einer Anordnung, die geradezu das Symbol aller Wahrnehmung ist, jeder als der Mittelpunkt des Theaters fühlt; was mir auch erklärte, weshalb Françoise, als man sie einmal ins Theater geschickt hatte, damit sie [29] sich ein Schauerstück vom dritten Rang aus ansehen konnte, nach der Heimkehr versichert hatte, ihr Platz sei der beste gewesen, den man hätte haben können, und statt sich zu weit entfernt zu fühlen, hatte sie sich von der geheimnisvollen und lebendigen Nähe des Vorhangs eingeschüchtert gefühlt. Mein Vergnügen steigerte sich noch, als ich hinter diesem herabgelassenen Vorhang gedämpfte Geräusche herauszuhören begann, so wie man sie unter der Schale eines Eies hört, wenn das Küken zu schlüpfen beginnt, die bald zunahmen und sich plötzlich, aus dieser für unseren Blick unzugänglichen Welt, die uns aber mit dem ihrigen sieht, unzweifelhaft an uns richteten, in der gebieterischen Gestalt dreier Klopfzeichen, die so aufregend waren wie Signale vom Mars. Und als – der Vorhang nunmehr geöffnet – auf der Bühne ein Schreibtisch und ein Kamin, recht gewöhnliche obendrein, zu erkennen gaben, dass die Personen, deren Eintritt man erwartete, keineswegs Schauspieler sein würden, die kommen, um etwas vorzutragen, so wie ich es einmal bei einer Soiree gesehen hatte, sondern Menschen in ihrem häuslichen Alltagsleben, in das ich eindrang, ohne dass sie mich sehen konnten, hielt mein Vergnügen weiterhin an; es wurde durch eine kurze Unruhe unterbrochen: gerade als ich die Ohren für den Beginn des Stückes spitzte, kamen zwei Männer auf die Bühne, die ziemlich wütend waren, denn sie sprachen so laut, dass man in diesem Saal, in dem sich mehr als tausend Menschen befanden, jede ihrer Äußerungen verstehen konnte, während man in einem kleinen Café darauf angewiesen ist, den Kellner zu fragen, was denn zwei Kerle, die einander in die Wolle geraten sind, eigentlich sagen. Aber im selben Augenblick, als ich noch erstaunt war zu sehen, dass das Publikum ihnen zuhörte, ohne zu protestieren, dass es in ein einhelliges Schweigen versunken war, das aber bald von einem Lachen hier und dort unterbrochen wurde, begriff ich, dass diese beiden Lümmel Schauspieler waren und dass das kleine [30] Voraus-Stück, der Aufwärmer, schon begonnen hatte. Ihm folgte eine derart lange Pause, dass die Zuschauer, die schon längst auf ihre Plätze zurückgekehrt waren, ungeduldig wurden und mit den Füßen trampelten. Ich war darüber erschrocken; denn ebenso, wie ich, wenn ich in Prozessberichten las, dass ein edelmütiger Mensch sich bereitgefunden habe, wider seine eigenen Interessen Zeugnis zugunsten eines Unschuldigen abzulegen, immer besorgt war, dass man nicht höflich genug mit ihm umgehen, dass man ihm nicht genügend Respekt erweisen, dass man ihn nicht reichlich genug belohnen würde und er sich angewidert auf die Seite der Ungerechtigkeit schlüge; genauso, indem ich Genie und Tugend gleichsetzte, hatte ich Angst, dass die Berma, verärgert über das schlechte Benehmen eines derartig schlecht erzogenen Publikums – von dem ich im Gegenteil gewünscht hätte, dass sie darin mit Befriedigung einige Berühmtheiten hätte erkennen können, auf deren Urteil sie Wert legte –, ihr Missfallen und ihre Verachtung zum Ausdruck bringen würde, indem sie schlecht spielte. Ich betrachtete mit flehender Miene diese trampelnden Rohlinge, die in ihrer Raserei den zerbrechlichen und kostbaren Eindruck zu zerstören drohten, den ich hier suchte. Schließlich erlebte ich die letzten freudigen Augenblicke während der ersten Szenen von Phädra. Die Figur der Phädra erscheint zu Beginn des zweiten Aktes nicht; und doch trat, nachdem sich der Vorhang gehoben und sich ein zweiter, rotsamtener Vorhang geteilt hatte, der in allen Stücken, in denen die Diva spielte, den Bühnenraum in der Tiefe halbierte, aus dem Hintergrund eine Schauspielerin ein, die eine Figur und Stimme hatte, wie mir die der Berma beschrieben worden waren. Die Besetzung musste geändert worden sein, und all die Mühe, die ich mir mit dem Studium der Rolle von Theseus’ Frau gemacht hatte, war unnütz geworden. Doch eine andere Schauspielerin antwortete der ersten. Ich musste mich getäuscht haben, als ich letztere für die Berma [31] gehalten hatte, denn die zweite ähnelte ihr noch mehr und hatte auch mehr noch als die andere ihre Sprechweise. Beide unterstrichen zudem ihre Rollen mit edlen Gebärden – die ich deutlich erkennen konnte und deren Zusammenhang mit dem Text ich verstand, während sie ihre schönen Peplen* rafften – sowie mit kunstvollen Betonungen, zuweilen leidenschaftlich, zuweilen ironisch, die mir die Bedeutung eines Verses klarmachten, den ich zu Hause gelesen hatte, ohne allzu viel Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, was er besagen mochte. Doch ganz plötzlich erschien, in der Öffnung des roten Vorhangs der geheiligten Stätte, wie in einem Rahmen, eine Frau, und an meiner Angst, die sicherlich viel besorgter war, als es die der Berma sein konnte, dass man sie irritieren würde, indem man ein Fenster öffnete, dass man den Klang eines ihrer Sätze beeinträchtigen würde, indem man mit dem Programmheft raschelte, dass man sie verstimmen würde, indem man ihren Kolleginnen zu viel oder ihr nicht genügend applaudierte; – an meiner Art und Weise auch, die ebenfalls noch unbedingter war als die der Berma, von diesem Augenblick an Saal, Publikum, Darsteller, Stück und sogar meinen eigenen Körper nur noch als ein akustisches Medium zu betrachten, dem lediglich in dem Maße Bedeutung zukam, in dem es sich als günstig für die Modulationen dieser Stimme erwies, erkannte ich sofort, dass die beiden Schauspielerinnen, die ich vor wenigen Augenblicken bewundert hatte, nicht die geringste Ähnlichkeit mit der hatten, die zu hören ich gekommen war. Doch zugleich war meine ganze Freude dahin; ich mochte meine Augen, meine Ohren, meinen Geist noch so sehr auf die Berma konzentrieren, um mir auch nicht den geringsten Grund entgehen zu lassen, die sie mir liefern würde, sie zu bewundern, es gelang mir dennoch nicht, nur einen einzigen zu erhaschen. Ich konnte in ihrem Vortrag und in ihrem Spiel, anders als bei ihren Kolleginnen, nicht einmal kunstvolle Tonfälle, schöne Gebärden [32] erkennen.
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