Ich hörte sie, wie ich Phädra gelesen haben würde, oder als ob Phädra selbst in diesem Augenblick das sagte, was ich hörte, ohne dass das Talent der Berma dem irgendetwas hinzugefügt hätte. Um ihn ausloten zu können, um herausfinden zu können, was an Schönheit in ihm steckte, hätte ich jeden Tonfall der Künstlerin, jeden Ausdruck ihrer Züge festhalten und lange Zeit vor mir unbeweglich stehen lassen mögen; unter Einsatz all meiner geistigen Beweglichkeit richtete ich die schärfste Aufmerksamkeit schon im voraus auf einen Vers und versuchte durch diese Vorbereitung, mir auch nicht das kleinste bisschen von der Dauer auch nur eines Wortes, nur einer Gebärde entgehen zu lassen, und dank der Intensität meiner Aufmerksamkeit schließlich so tief in sie einzudringen, wie ich es getan haben würde, wenn mir nur genug Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Doch wie kurz diese Dauer war! Kaum hatte mein Ohr einen Klang empfangen, wurde er schon durch einen anderen ersetzt. In einer Szene, in der die Berma einen Augenblick lang unbeweglich verharrt, die Arme zur Höhe des Gesichts erhoben, durch einen Kunstgriff der Beleuchtung in ein grünliches Licht getaucht, vor einer Dekoration, die das Meer darstellt, brach der Saal in Applaus aus, doch schon hatte die Schauspielerin den Ort gewechselt, und das Bild, in das ich mich gerne vertieft hätte, bestand nicht mehr. Ich sagte zu meiner Großmutter, dass ich nicht gut sehen könne, und sie gab mir ihr Opernglas. Jedoch, wenn man an die Wirklichkeit der Dinge glaubt, dann ist der Gebrauch eines künstlichen Hilfsmittels, um sie sich zeigen zu lassen, nicht im geringsten damit zu vergleichen, sich ihnen nahe zu fühlen. Ich dachte, dass das, was ich sah, nicht mehr die Berma war, sondern ihr Bild in dem Objektiv. Ich legte das Opernglas wieder zurück; aber vielleicht war das durch die Entfernung verkleinerte Bild, das mein Auge nun empfing, nicht genauer; welche der beiden Bermas war die wahre? Was nun die Liebeserklärung an Hippolyt betrifft, so [33] hatte ich große Erwartungen in diese Passage gesetzt, in der sie, wenn man die kunstvolle Bedeutsamkeit zum Maßstab nimmt, die mir ihre Kolleginnen beständig auch in minder schönen Partien enthüllt hatten, ganz gewiss viel überraschendere Betonungen benutzen würde als alle, die ich mir zu Hause, wenn ich las, vorzustellen versucht hatte; aber sie schwang sich nicht einmal zu jenen auf, die Oenone* oder Aricia* gefunden hätten, sie ging mit dem Hobel eines gleichförmigen Singsangs über den ganzen Monolog hinweg, in dem auch Gegensätze völlig eingeebnet wurden, die derart markant sind, dass jede auch nur mäßig begabte Tragödin, ja selbst eine Gymnasiastin, sich die Wirkung nicht hätte entgehen lassen; zudem trug sie ihn derart schnell vor, dass sich mein Geist erst, als sie schon beim letzten Vers angekommen war, der vorsätzlichen Gleichförmigkeit bewusst wurde, die sie den ersten aufgezwungen hatte.
Schließlich brach ein erstes Gefühl der Bewunderung in mir hervor: es wurde durch die stürmischen Beifallskundgebungen der Zuschauer ausgelöst. Ich fügte die meinen hinzu und versuchte so, sie zu verlängern, damit die Berma sich, aus Dankbarkeit, noch überträfe und ich sicher sein könnte, sie an einem ihrer besten Tage gehört zu haben. Es ist übrigens merkwürdig, dass die Stelle, an der sich diese Begeisterung des Publikums entfachte, auch, wie ich seither erfahren habe, eben jene war, an der die Berma einen ihrer schönsten Einfälle anbringt. Es scheint, dass bestimmte übersinnliche Wesenheiten um sich her Strahlen aussenden, für die die Menge empfänglich ist. Ähnlich rufen, wenn zum Beispiel irgendein größeres Ereignis bekannt wird, wenn an der Grenze eine Armee in Gefahr oder geschlagen oder siegreich ist, die reichlich verworrenen Nachrichten, die man erhält und mit denen ein gebildeter Mensch nicht viel anzufangen weiß, in der Menge eine Erregung hervor, die ihn überrascht und in der er, nachdem ihn die Experten [34] erst einmal über die wirkliche militärische Situation ins Bild gesetzt haben, die Wahrnehmung des Volkes für jene »Aura« erkennt, die die großen Ereignisse umgibt und die auf Hunderte von Kilometern sichtbar sein kann. Man erfährt vom Sieg entweder verspätet, wenn der Krieg schon zu Ende ist, oder aber unverzüglich durch die Freude des Concierge. Man erfährt von einem genialen Zug im Spiel der Berma entweder acht Tage, nachdem man sie gehört hat, durch die Kritik oder sofort durch die Jubelrufe des Parketts. Da aber diese unmittelbare Einsicht der Menge mit hundert anderen, völlig irrigen, vermengt ist, kamen die Beifallskundgebungen meistens an der falschen Stelle, ganz davon abgesehen, dass sie automatisch durch die Kraft des vorangegangenen Beifalls emporgeschaukelt wurden, so wie bei einem Sturm das Meer, sobald es genügend aufgewühlt ist, fortfährt anzuschwellen, selbst wenn der Wind nicht mehr zunimmt. Wie auch immer, in dem Maße, in dem ich Beifall spendete, schien mir auch die Berma besser gespielt zu haben. »Wenigstens«, sagte eine ziemlich gewöhnliche Frau neben mir, »verausgabt die sich, die treibt sich an, bis sie umfällt, die bringt ihre Sache an den Mann, da können Sie sagen, was Sie wollen, das nenne ich Spielen.« Und glücklich, diese Gründe für die Überlegenheit der Berma zu finden, auch wenn ich ahnte, dass sie diese so wenig erklärten wie der Ausruf eines Bauern »das ist schon gut gemacht!, ganz gediegen, und tadellos!, was für eine Arbeit!« jene der Mona Lisa oder des Perseus* von Benvenuto*, hatte ich doch berauscht teil am kruden Wein dieser öffentlichen Begeisterung. Ich empfand dennoch, als der Vorhang gefallen war, Enttäuschung darüber, dass das Vergnügen, das ich so sehr herbeigesehnt hatte, nicht größer gewesen war, doch zugleich auch das Verlangen, es zu verlängern, nicht für alle Zeit, indem ich aus dem Saal ging, dieses Theaterleben aufzugeben, das während mehrerer Stunden auch meines gewesen war und dem ich mich, wenn ich [35] direkt nach Hause ging, entreißen würde wie beim Aufbruch ins Exil, hätte ich nicht die Hoffnung gehabt, dort viel über die Berma von ihrem Bewunderer zu erfahren, dem ich es verdankte, dass man mir erlaubt hatte, in Phädra zu gehen, nämlich Monsieur de Norpois. Ich wurde ihm vor dem Essen von meinem Vater vorgestellt, der mich zu diesem Zweck in sein Arbeitszimmer rief. Bei meinem Eintritt erhob sich der Botschafter, reichte mir die Hand, neigte seine hohe Gestalt und heftete seine blauen Augen aufmerksam auf mich. Da die durchreisenden Fremden, die ihm zu der Zeit, als er Frankreich vertrat, vorgestellt wurden, mehr oder weniger – und waren es auch nur bekannte Sänger – angesehene Persönlichkeiten waren und er folglich von ihnen wusste, dass er später, wenn man ihren Namen in Paris oder in Petersburg erwähnte, sagen können würde, dass er sich ausgezeichnet an den Abend erinnere, den er in München oder Sofia mit ihnen verbracht habe, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, ihnen durch seine Freundlichkeit die Befriedigung anzudeuten, die es ihm bereitete, sie zu kennen: Vor allem aber setzte er, in der Überzeugung, dass man durch das Leben in Hauptstädten, in der Begegnung zugleich mit interessanten Persönlichkeiten, die sie besuchen, wie auch mit den Gebräuchen des Volkes, das sie bewohnt, eine vertiefte Kenntnis, die auch die Bücher nicht vermitteln können, von der Geschichte, der Geographie, den Sitten der verschiedensten Nationen, den geistigen Strömungen Europas erwirbt, bei jedem Neuankömmling seine geschärften Fähigkeiten als Beobachter ein, um sich sogleich zu vergewissern, mit welcher Sorte Mensch er es zu tun hatte. Die Regierung hatte ihm schon lange keinen Posten im Ausland mehr anvertraut, doch noch immer begannen, als wären sie von seiner Versetzung in den einstweiligen Ruhestand nicht benachrichtigt worden, seine Augen, sobald ihm irgendjemand vorgestellt wurde, ergiebige Beobachtungen anzustellen, während er durch seine [36] ganze Haltung zu zeigen suchte, dass ihm der Name des Fremden nicht unbekannt sei. Und daher hörte er die ganze Zeit, während er liebenswürdig und mit der gewichtigen Miene eines Mannes sprach, der sich seiner umfangreichen Erfahrung bewusst ist, nicht auf, mich mit einer durchdringenden, zielstrebigen Neugier prüfend zu betrachten, als wäre ich irgendein exotischer Brauch, irgendein lehrreiches Bauwerk oder irgendein Star auf Tournee. In dieser Weise legte er mir gegenüber zugleich die erhabene Liebenswürdigkeit des weisen Mentor* wie auch die eifrige Neugier des jungen Anacharsis* an den Tag.
Zur Revue des Deux Mondes machte er mir keinerlei Vorschläge, stellte mir aber eine Anzahl von Fragen über mein Leben und meine Studien, meine Neigungen, über die ich das erste Mal in einer Weise reden hörte, als könne es vernünftig sein, ihnen nachzugehen, während ich bis dahin geglaubt hatte, dass es eine Verpflichtung sei, ihnen entgegenzutreten. Da sie mich zur Seite der Literatur hin trugen, lenkte er mich nicht von ihr weg; er sprach im Gegenteil mit Hochachtung von ihr, wie von einem verehrungswürdigen und bezaubernden Mitglied eines auserlesenen Kreises, das man, aus Rom oder aus Dresden, in der besten Erinnerung hat und von dem man bedauert, dass man es, bedingt durch die Zwänge des Lebens, so selten wiedertrifft. Er schien mich, indem er auf fast anzügliche Weise lächelte, um die schönen Augenblicke zu beneiden, die sie mich, glücklicher und freier als er, würde erleben lassen. Aber schon die Begriffe, deren er sich bediente, zeigten mir die Literatur als sehr verschieden von dem Bild, das ich mir von ihr in Combray gemacht hatte, und ich begriff, dass ich doppelt recht daran getan hatte, ihrer zu entsagen. Bis jetzt war mir lediglich klar geworden, dass ich nicht das Talent zum Schreiben besaß; jetzt vertrieb mir Monsieur de Norpois sogar den Wunsch danach. Ich wollte ihm erklären, wovon ich geträumt hatte; vor Erregung [37] zitternd, hätte ich mir Vorwürfe gemacht, wenn nicht alle meine Äußerungen die genaueste Entsprechung dessen gewesen wären, was ich empfunden und dem ich noch nie zuvor Ausdruck zu verleihen unternommen hatte; kurz gesagt, meine Äußerungen ließen jegliche Klarheit vermissen. Aus professioneller Gewohnheit vielleicht, vielleicht auch aufgrund der Gelassenheit, die sich jeder bedeutende Mann auferlegt, den man um Rat fragt und der, in der Gewissheit, die Gesprächsführung in der Hand zu halten, in aller Gemütlichkeit den Gesprächspartner sich abstrampeln, abrackern und abmühen lässt, vielleicht aber auch, um die charakteristischen Merkmale seines Kopfes zur Geltung zu bringen (ihm zufolge griechisch, trotz des großen Backenbarts), bewahrte Monsieur de Norpois, während man ihm etwas auseinandersetzte, ein so gänzlich unbewegtes Gesicht, als hätte man zu irgendeiner antiken – und tauben – Büste in einer Glyptothek gesprochen.
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